Narziss Und Goldmund
ich kann mir nicht denken, daß das Vollziehen solcher formaler Aufgaben einen anderen Wert habe als den einer Verstandesübung für Schüler.
Rechnen lernen ist ja ganz gut. Aber ich fände es sinnlos und kindisch, wenn ein Mensch sein Leben lang über solchen Rechenaufgaben sitzen und ewig sein Papier mit Zahlenreihen bedecken würde.«
»Du täuschest dich, Goldmund Du nimmst eben an, daß dieser fleißige Rechner immer neue Schulaufgaben löse, die ein Lehrer ihm stellt. Er kann sich die Fragen aber auch selbst stellen, sie können als zwingende Gewalten in ihm entstehen. Man muß manchen wirklichen und manchen fiktiven Raum mathematisch berechnet und gemessen haben, ehe man als Denker an das Problem des Raumes sich wagen kann.«
»Nun ja. Aber das Problem des Raumes, als reines Denk-problem, scheint mir auch in der Tat nicht der Gegenstand zu sein, an den ein Mann seine Arbeit und seine Jahre verschwenden sollte. Das Wort ›Raum‹ ist für mich nichts und keines Gedankens wert, solange ich mir nicht einen wirklichen Raum dabei vorstelle, etwa den Sternenraum, den zu betrachten und auszumessen scheint mir
allerdings keine unwürdige Aufgabe.«
Lächelnd fiel Narziß ein »Du willst eigentlich sagen, daß 298
du vom Denken nichts hältst, wohl aber von der Anwendung des Denkens auf die praktische und sichtbare Welt.
Ich kann dir antworten: an Gelegenheiten zur Anwendung unseres Denkens und am Willen dazu fehlt es uns
keineswegs. Der Denker Narziß zum Beispiel hat die Ergebnisse seines Denkens sowohl auf seinen Freund Goldmund wie auf jeden seiner Mönche hundertmal zur Anwendung gebracht und tut es zu jeder Stunde. Wie aber sollte er etwas ›anwenden‹, wenn er es nicht zuvor gelernt und geübt hätte. Auch der Künstler übt ja sein Auge und seine Phantasie immerzu, und wir erkennen seine Übung an, wenn sie auch nur in wenigen wirklichen Werken zur Auswirkung kommt. Du kannst nicht das Denken als solches verwerfen, seine ›Anwendung‹ aber billigen! Der Widerspruch ist klar. Also laß mich ruhig denken, und beurteile mein Denken nach seinen Auswirkungen, ebenso wie ich deine Künstlerschaft nach deinen Werken beurteilen werde. Du bist jetzt unruhig und gereizt, weil zwischen dir und deinen Werken noch Hindernisse liegen. Räume sie weg, suche oder baue dir eine Werkstatt und gehe auf deine Werke los! Viele Fragen werden sich dabei von selber lösen.«
Goldmund wünschte sich nichts Besseres.
Er fand einen Raum neben dem Hoftor, der zur Zeit leer stand und sich zur Werkstatt eignete. Er gab dem Zimmermann einen Zeichentisch und anderes Gerät in Auftrag, das er ihm genau aufzeichnete. Er stellte eine Liste der Gegenstände auf, die ihm von den Kloster-
fuhrleuten nach und nach aus den nächsten Städten mitgebracht werden sollten, eine lange Liste. Er schaute sich beim Zimmermann und im Walde alle Vorräte von ge-schlagenem Holze an, wählte viele Stücke für sich aus und ließ eins ums andere in den Grasgarten hinter seiner Werkstatt schaffen, wo er sie trocken lagerte und mit ei-299
genen Händen ein Schutzdach darüber zimmerte. Auch hatte er viel beim Schmied zu tun, dessen Sohn, einen jungen träumerischen Menschen, er ganz bezauberte und für sich gewann. Mit ihm stand er nun halbe Tage an der Esse, am Amboß, am Kühltrog und am Schleifstein, da stellten sie alle die krummen und geraden Schnitzmesser, Meißel, Bohrer und Schabeisen her, die er zur Bearbei-tung der Hölzer brauchte. Der Schmiedssohn Erich, ein Jüngling von etwa zwanzig Jahren, wurde Goldmunds Freund, er half überall mit und war voll glühender Teil-nahme und Neugierde. Goldmund versprach ihm, ihn im Lautenspiel zu unterrichten, was er sich sehnlich wünschte, und auch das Schnitzen sollte er bei ihm probieren dürfen. Wenn Goldmund zuzeiten sich im Kloster und bei Narziß recht unnütz und bedrückt fühlte, konnte er sich bei Erich erholen, der ihn schüchtern liebte und ohne Maß verehrte. Oft bat er ihn, ihm vom Meister Niklaus und von der Bischofsstadt zu erzählen, manchmal tat Goldmund es gerne und war dann plötzlich verwundert darüber, daß er nun hier sitze und wie ein alter Mann von Reisen und Taten der Vergangenheit berichte, da doch sein Leben erst richtig beginnen sollte.
Daß er sich in den letzten Zeiten stark verändert hatte und weit über seine Jahre gealtert war, konnte niemand sehen, sie hatten ihn ja vorher nicht gekannt. Die Nöte der Wanderschaft und des unsteten Lebens mochten schon früher an
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