Narziss Und Goldmund
enttäuschend, weil sie das Verlangen nach Höchstem erweckten und es doch nicht erfüllten, weil ihnen die Hauptsache fehlte: das Geheimnis. Das war es, was Traum und höchstes Kunstwerk Gemeinsames hatten: das Geheimnis.
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Weiter dachte Goldmund ein Geheimnis ist es, das ich liebe, dem ich auf der Spur bin, das ich mehrmals habe aufblitzen sehen und das ich als Künstler, wenn es mir einmal möglich sein wird, darstellen und zum Sprechen bringen möchte. Es ist die Gestalt der großen Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, in besonderer Fülle oder Magerkeit, Derbheit oder Zierlichkeit, Kraft oder Anmut, sondern es besteht darin, daß die größ-
ten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und
beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung. Hatte ich diese Figur mir aus-gesonnen, wäre sie nur mein Gedankenspiel oder ein ehr-geiziger Künstlerwunsch, so wäre es nicht schade um sie, ich könnte ihren Fehler einsehen und sie vergessen. Aber die Urmutter ist kein Gedanke, denn ich habe sie nicht erdacht, sondern gesehen! Sie lebt in mir, immer wieder ist sie mir begegnet. Zuerst habe ich sie geahnt, als ich in einem Dorf, in einer Winternacht, über dem Bett einer gebä-
renden Bäuerin das Licht halten mußte: damals fing das Bild in mir zu leben an. Oft ist es ferne und verloren, lange Zeit, aber plötzlich zuckt es wieder auf, auch heute wieder.
Das Bild meiner eigenen Mutter, einst mein liebstes, hat sich ganz in dies neue Bild verwandelt, es ist in ihm drinnen wie der Kern in einer Kirsche.
Deutlich fühlte er jetzt seine augenblickliche Lage, das Bangen vor einer Entscheidung. Er war, nicht minder als damals beim Abschied von Narziß und dem Kloster, auf einem wichtigen Wege: dem Weg zur Mutter. Vielleicht wurde einmal aus der Mutter ein allen sichtbares, gestaltetes Bild werden, ein Werk seiner Hände. Vielleicht lag dort das Ziel, war dort der Sinn seines Lebens verborgen.
Vielleicht, er wußte es nicht. Eines aber wußte er: der Mut-195
ter zu folgen, zu ihr unterwegs zu sein, von ihr gezogen und gerufen zu werden, das war gut, das war Leben.
Vielleicht konnte er nie ihr Bild gestalten, vielleicht blieb sie immer Traum, Ahnung, Lockung, goldenes Aufblinken heiligen Geheimnisses. Nun, auf jeden Fall hatte er ihr zu folgen, ihr hatte er sein Schicksal anheimzustellen, sie war sein Stern.
Und nun lag die Entscheidung schon nahe vor ihm, es war alles klar geworden. Die Kunst war eine schöne Sache, aber sie war keine Göttin und kein Ziel, für ihn nicht, nicht der Kunst hatte er zu folgen, nur dem Ruf der Mutter. Was konnte es nutzen, seine Finger noch immer geschickter zu machen? Am Meister Niklaus konnte man sehen, wohin das führte. Es führte zu Ruhm und Namen, zu Geld und seßhaftem Leben, und zu einer Verdorrung und Verkümmerung jener inneren Sinne, denen allein das Geheimnis zugänglich ist. Es führte zum Herstellen hübscher kostbarer Spielwaren, zu allerlei reichen Altären und Kanzeln, heiligen Sebastianen und hübsch gelockten Engelsköpfchen, das Stück zu vier Talern. Oh, das Gold im Aug’
eines Karpfens und der süße dünne Silberflaum am Rand eines Schmetterlingsflügels war unendlich viel schöner, lebendiger, köstlicher als ein ganzer Saal voll von jenen Kunstwerken.
Ein Knabe kam singend die Uferstraße herabgegangen, manchmal verstummte sein Gesang, und er biß in ein gro-
ßes Stuck Weißbrot, das er in der Hand trug. Ihn sah Goldmund und bat ihn um ein Stückchen von seinem Brot, krallte ein Stück Weiches mit zwei Fingern heraus und formte daraus kleine Kugeln. Über die Mauerbrüstung hinausliegend, warf er die Brotkugeln, langsam eine um die andere, ms Wasser hinab, sah im dunkeln Wasser die helle Kugel hinabsinken und sah sie von den raschen drängenden Köpfen der Fische umschwärmt, bis sie in ei-196
nem der Mäuler verschwand. Kugel um Kugel sah er sinken und verschwinden, tief befriedigt. Dann fühlte er Hunger und suchte eine seiner Geliebten auf, die im Hause eines Fleischers Magd war und die er »Gebieterin der Würs-te und Schinken« nannte. Mit dem gewohnten Pfiff lockte er sie ans Küchenfenster und war willens, sich dies oder jenes Nahrhafte von ihr geben zu lassen, um es zu sich zu stecken und draußen überm Fluß auf einem der Rebhügel zu verzehren, deren roter fetter Boden so kräftig
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