Narziss und Goldmund
Sündenvergebung ihn in den Himmel bringen könne.
Er wußte nicht, ob es einen Himmel gebe, und einen Gottvater, und ein Gericht und eine Ewigkeit. Er hatte in diesen Dingen seit langem jede Gewißheit verloren.
Aber ob es nun eine Ewigkeit geben mochte oder nicht er begehrte sie nicht, er wollte nichts als dies unsichere, vergängliche Leben, dieses Atmen, dieses Zuhausesein in seiner Haut, er wollte nichts als leben. Rasend richtete er sich auf, tappte schwankend im Dunkeln bis zur Mauer, lehnte sich aufrecht an die Wand und begann nachzudenken Es mußte doch eine Rettung geben! Vielleicht war der Priester die Rettung, war vielleicht von seiner Unschuld zu überzeugen, legte ein Wort für ihn ein oder verhalf ihm zu Aufschub oder Flucht! Heftig vertiefte er sich in diese Gedanken, immer wieder. Und wenn es damit nichts war, so wollte er es doch nicht aufgeben, das Spiel durfte noch nicht verloren sein. Er wurde also zuerst versuchen, den Priester für sich zu gewinnen, er wurde sich die äußerste Mühe geben, ihn zu bezaubern, ihn warm zu bekommen, ihn zu überzeugen, ihm zu schmeicheln. Der Priester war die einzige gute Karte in se inem Spiel, alle andern Mög lichkeiten waren Träume. Immerhin, es gab Zufälle und Fügungen, der Henker konnte eine Kolik bekommen, der Galgen konnte brechen, es konnte sich eine vorher nicht auszudenkende Fluchtmögli chkeit einstellen. Auf alle Fäl le weigerte Goldmund sich zu sterben, er hatte vergeblich versucht, dies Schicksal in sich einzulassen und aufzuneh men, es war ihm nicht gelungen. Er würde sich zur Wehr setzen und bis aufs äußerste kämpfen, er würde dem Wächter ein Bein stellen, er würde den Henker niederrennen, er würde sich bis zum letzten Augenblick mit jedem Blutstropfen um sein Leben wehren. – Oh, wenn er doch den Pfaffen dazu bringen konnte, daß er ihm die Hände losbände! Unendlich viel wäre dann gewonnen.
Inzwischen versuchte er, auf die Schmerzen nicht achtend, mit seinen Zähnen an den Stricken zu arbeiten. Mit wütender Anstrengung brachte er es nach grausam langer Zeit dahin, daß sie ihm ein wenig gelockert schienen. Er stand keuchend in der Nacht seines Gefängnisses, die verschwollenen Arme und Hände taten sehr weh. Als er wieder zu Atem gekommen war, schlich er tastend die Mauer entlang, immer weiter, durchforschte Schritt um Schritt die feuchte Kellerwand, ob er keine vorspringende Kante finde. Da fielen die Stufen ihm ein, über die er in dies Verlies gestolpert war. Er suchte und fand sie. Er kniete nieder und versuchte, den Strick an einer der steinernen Stufenkanten zu reiben. Es ging schwer, immer trafen statt des Stricks seine Handknöchel auf den Stein, es schmerzte wie Feuer, er fühlte das Blut rinnen. Doch ließ er nicht nach. Als schon zwischen Tor und Schwelle ein kläglich dünner Streifen grauen Morgenscheines zu sehen war, hatte er es erreicht. Der Strick war durchgerieben, er konnte ihn lösen, er hatte die Hände frei! Nachher aber konnte er kaum einen Finger bewegen, die Hände waren verschwollen und abgestorben, un d die Arme waren bis in die Schultern hinauf steif verkrampft. Er mußte sie üben, er zwang sie zu Bewegungen, damit das Blut sie wieder durchströme. Denn er hatte jetzt einen Plan, der ihm gut schien.
Sollte er es gar nicht erreichen können, daß der Pfaffe ihm half, nun dann mußte er, falls man den Mann auch nur die kleinste Weile mit ihm allein ließ, ihn totschlagen. Mit einem der Stühle würde es gehen. Erwürgen konnte er ihn nicht, dazu war nicht Kraft genug in Händen und Armen.
Also ihn erschlagen, schnell sein Priesterkleid umnehmen und darin entkommen! Bis die andern den Totgeschlage nen fanden, mußte er aus dem Schlosse sein, und dann laufen, laufen! Marie wurde ihn hereinlassen und verbergen. Er mußte es versuchen. Es war möglich.
Noch nie in seinem Leben hatte Goldmund das Morgengrauen so beobachtet, erharrt, ersehnt und doch gefürchtet wie in dieser Stun de. Bebend vor Spannung und Ent schlossenheit äugte er mit Jägeraugen, wie der elende Lichtspalt unterm Tor langsam, langsam heller wurde. Er kehrte zum Tisch zurück und übte sich darin, so mit den Händen zwischen den Knien auf der Stabelle zu hocken, daß man das Fehlen seiner Fesseln nicht gleich bemerken konnte. Seit seine Hände frei waren, glaubte er nicht mehr an den Tod. Er war entschlossen durchzukommen, und wenn die ganze Welt dabei in Scherben ging. Er war entschlossen zu leben, um jeden Preis. Seine Nase bebte
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