Narziss und Goldmund
kann. Darum sagte ich früher so oft zu dir versuche nicht den Denker oder den Asketen nachzuahmen, sondern sei du selbst, suche dich selbst zu verwirklichen!«
»Ich verstehe dich so halb und halb. Aber was heißt das eigentlich sich verwirklichen?«
»Es ist ein philosophischer Begriff, ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe das vollkommene Sein. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein Dort aber, wo wir von der Potenz zur T at, von der Möglichkeit zur Ver wirklichung schreiten, haben wir teil am wahren Sem, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher Das heißt sich verw irklichen Du mußt ja diesen Vorgang aus eigener Erfahrung kennen Du bist ja Künstler und hast manche Figuren gemacht. Wenn dir nun eine solche Figur wirklich geglückt ist, wenn du das Bildnis eines Menschen von Zufälligkeiten befreit und auf eine reine Form gebracht hast – dann hast du, als Künstler, dies Men schenbild verwirklicht.«
»Ich habe verstanden.«
»Du siehst mich, Freund Goldmund, an einem Ort und in einem Amte, wo es meiner Natur einigermaßen leichtgemacht wird, sich zu verwirklichen. Du siehst mich in einer Gemeinschaft und Überlieferung leben, die mir entspricht und mir hilft. Ein Kloster ist kein Himmel, es ist voll von Unvollkommenheit, aber dennoch ist ein anständig geführtes Klosterleben für Menschen von meiner Art unendlich viel fördernder als das Weltleben. Ich will nicht vom Sittlichen reden, aber schon rein praktisch verlangt das reine Denken, das zu üben und zu lehren meine Aufgabe ist, einen gewissen Schutz vor der Welt. Ich habe also hier in unserem Hause es viel leichter gehabt, mich zu verwirklichen, als du es gehabt hast. Daß du trotzdem einen Weg gefunden hast und ein Künstler geworden bist, das bewundere ich sehr. Denn du hast es ja so viel schwerer gehabt.«
Goldmund errötete vor Verlegenheit über das Lob und auch vor Freude. Um abzulenken, unterbrach er den Freund: »Das meiste von dem, was du mir sagen wolltest, habe ich verstehen können. Eines aber will mir noch immer nicht in den Kopf das, was du ›das reine Denken‹
nennst, also dein sogenanntes Denken ohne Bilder und das Operieren mit Worten, bei denen man sich nichts vorstellen kann.«
»Nun, an einem Beispiel kannst du es dir klarmachen: Denke doch an die Mathematik! Was für Vorstellungen enthalten die Zahlen? Oder die Zeichen Plus und Minus?
Was für Bilder enthält eine Gleichung? Gar keine! Wenn du eine arithmetische oder algebraische Aufgabe lösest, so hilft dir keine Vorstellung dabei, sondern du vollziehst innerhalb gelernter Denkformen eine formale Aufgabe.«
»So ist es, Narziß. Wenn du mir eine Reihe von Zahlen und Zeichen hinschreibst, so kann ich mich ohne alle Vorstellungen durch sie hindurcharbeiten, kann mich von dem Plus und Minus, den Quadraten, den Ei nklammerun gen und so weiter leiten l assen, und kann die Aufgabe lö sen. Das heißt – ich konnte es einst, heut könnte ich es längst nicht mehr. Aber ich kann mir nicht denken, daß das Vollziehen solcher formaler Aufgaben einen anderen Wert habe als den einer Verstandesübung für Schüler.
Rechnen lernen ist ja ganz gut. Aber ich fände es sinnlos und kindisch, wenn ein Mensch sein Leben lang über solchen Rechenaufgaben sitzen und ewig sein Papier mit Zahlenreihen bedecken würde.«
»Du täuschest dich, Goldmund Du nimmst eben an, daß dieser fleißige Rechner immer neue Schulaufgaben löse, die ein Lehrer ihm stellt. Er kann sich die Fragen aber auch selbst stellen, sie können als zwingende Gewalten in ihm entstehen. Man muß manchen wirklichen und manchen fiktiven Raum mathematisch berechnet und gemessen haben, ehe man als Denker an das Problem des Raumes sich wagen kann.«
»Nun ja. Aber das Problem des Raumes, als reines Denkproblem, scheint mir auch in der Tat nicht der Gegenstand zu sein, an den ein Mann seine Arbeit und seine Jahre verschwenden sollte. Das Wort ›Raum‹ ist für mich nichts und keines Gedankens wert, solange ich mir nicht einen wirklichen Raum dabei vorstelle, etwa den
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