Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
dir gar nicht vorstellen, wie wütend ich war, als ich gemerkt habe, dass er wieder verschwunden ist … Ich wollte einfach nicht glauben, dass alles umsonst gewesen sein sollte. Und ich weiß auch, dass wir zu weit gekommen sind, um jetzt den Dingen ihren Lauf zu lassen. Aber andererseits müssen wir auch sehen, dass in Talaria gerade Ungeheures geschieht, Umwälzungen, die uns viel näher sind als die Gestirne am Himmel. Was in Talaria vor sich geht, ist das Hier und Jetzt: Während wir uns unterhalten, wird draußen gestorben, alte Machtverhältnisse zerbrechen, und die Welt, in der wir aufgewachsen sind, verändert sich von Grund auf. Und wir, was machen wir? Wir hocken in dieser verdammten Höhle, oder, schlimmer noch, jagen einem Gespenst nach.«
»Aber genau das müssen wir tun, wir müssen Verba finden.«
»Und wo, bitte schön, sollen wir ihn suchen? Er hat keinerlei Spuren hinterlassen.«
»Nicht den kleinsten Anhaltspunkt?«
Talitha schüttelte den Kopf. »Er hat alles gründlich ausgeräumt. Diese Regale dort waren voller Gläser und Fläschchen, und voller Bücher. Das Einzige, was er dagelassen hat, ist ein schmales Heft.«
»Kann ich das mal sehen?«
Talitha griff zu dem in Leder eingebundenen Bändchen und reichte es ihm. »Ich glaube, es ist eine Art Tagebuch, denn die Handschrift ist die gleiche wie auf dem Blatt, das er mir hingelegt hat. Wahrscheinlich hat er es einfach nur vergessen.«
»Und wenn nicht? Wenn er es mit Absicht für uns zurückgelassen hat?«, sagte Saiph.
»Warum hätte er das tun sollen?«
»So wie du ihn mir beschrieben hast, sind seine Beweggründe sehr schwer zu durchschauen.«
Eine ganze Weile sah sich Saiph die Seiten aufmerksam an. Einige waren mit Schriftzeichen, die ihm völlig fremd waren, beschrieben, andere mit talaritischen Buchstaben, jedoch in einer unbekannten Sprache. »Hat er uns zufällig auch was zum Schreiben dagelassen?«, fragte er.
»Höchstens die Rückseite des Pergamentblatts mit den Anweisungen. Und dann hätten wir noch die Tinktur, mit der ich meine Haare nachgefärbt habe: Wenn du ein Stöckchen hineintauchst und es als Griffel verwendest …«
»Sehr gut, eine ausgezeichnete Idee …«
»Was hast du denn vor?«
»Ich will das übersetzen«, antwortete Saiph mit einem Lächeln.
Die nächsten zwei Tage, während er noch liegen sollte, widmete sich Saiph ganz dieser Aufgabe. Abends musste ihm Talitha Pergamentblatt und Tagebuch regelrecht aus der Hand reißen, damit er endlich aufhörte und schlief. Doch mitten in der Nacht wachte er auf und machte sich wieder an die Arbeit: Die Beschäftigung mit dieser Aufgabe lenkte ihn ab, half ihm, nicht an die Schmerzen zu denken.
Und bald wurden seine Anstrengungen belohnt. Der Schlüssel zum Erfolg waren zwei Abschnitte, die sehr ähnlich aussahen, obwohl der eine mit den unbekannten Schriftzeichen geschrieben war. Saiph verglich die beiden Abschnitte, wobei er davon ausging, dass darin der gleiche Inhalt nur mit verschiedenen Zeichen dargestellt war. Auf diese Weise k onnte er mehr und mehr des unbekannten Alphabets rekon struieren. Dann der Glückstreffer: Ungefähr in der Mitte war ein recht bekanntes femtitisches Lied wiedergegeben. Verba hatte es übertragen und dann in die eigene Sprache übersetzt.
Saiph war schon immer ein Freund logischen Denkens gewesen und sehr geschickt darin, durch kluges Kombinieren Rätseln auf die Spur zu kommen. Durch ständiges Vergleichen und Gegenüberstellen mit der Femtiten- oder Talaritensprache kam er Schritt für Schritt dem Ziel näher. Dabei half, dass es in Verbas Sprache offenbar einige Wörter nicht gab, sodass er sie durch talaritische ersetzt hatte. Irgendwann konnte er die ersten Vermutungen über den Inhalt des Textes anstellen.
Talitha hatte Recht, es handelte sich um ein Tagebuch. In einem mit den fremdartigen Symbolen verfassten Abschnitt erzählte Verba vom Antiken Krieg. Je mehr Saiph herausbekam, desto beeindruckter war er, denn Verba schilderte diese so lange zurückliegenden Ereignisse derart lebendig, als habe er selbst daran teilgenommen.
Alles zu übersetzen gelang Saiph nicht. Aber er fand heraus, dass Verba in jener Epoche voller Eifer und Leidenschaft Seite an Seite mit den Femtiten gekämpft hatte. Dann aber änderte sich sein Ton. Verba schien aller Illusionen beraubt und beobachtete nur noch sehr distanziert das Treiben beider Seiten, sowohl der Femtiten als auch der Talariten, und deutete an, sich aus den Kämpfen
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