Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
für unschuldig?«, fragte er mit verdrossener Miene.
»Ja, Herr«, bestätigte der Kleine Vater, gefolgt von einem Konzert aus Pfiffen und Schreien.
»Gut, dann fügen wir den Anklagepunkten noch die Lüge hinzu.«
Talitha wollte aufspringen, doch Melkise hielt sie am Arm fest. »Bleib ruhig und schau dir die Sache einfach an. Wenn du das nicht kannst, dann geh lieber«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Aber das ist doch eine Schweinerei«, zischte sie.
»Was hast du anderes erwartet? Bleib sitzen und bewahr Ruhe.«
Der restliche Morgen verging mit einer endlosen Reihe von Zeugenaussagen. Fast alle überlebenden Sklaven, die im Kloster gedient hatten, wurden aufgerufen. Ihre dramatischen Schilderungen ähnelten sich sehr, erzählten von Unterdrückung, grausamen Strafen und Gewalttaten. Mit Sicherheit waren viele davon wahr, andere aber auch erfunden oder aufgebauscht.
Als eine alte Femtitin auftrat und erzählte, dass ihr Herr ihre Kinder vom Talareth hinabgeworfen hatte, damit sie ihr bei der Arbeit nicht im Weg waren, sprang ein Priester auf, umklammerte die Stäbe des Holzkäfigs und rief: »Das ist eine Lüge! Dergleichen habe ich niemals getan.«
Der Richter schlug wieder auf seine Trommel, damit Pfiffe und Geschrei verstummten. »Niemand hat dir das Wort erteilt«, rief er zornig, »und außerdem, warum sollte die Zeugin lügen?«
»Um sich an meiner Mutter zu rächen. Sie hat damals verhindert, dass diese Femtitin den Mann heiraten konnte, den sie liebte. Das war Unrecht, aber ich schwöre bei Mira, dass ich sie immer mit Respekt behandelt habe! Warum tust du das?«, wandte er sich an die Frau. »Du hast mich doch aufgezogen wie einen eigenen Sohn!«
Die Alte sah ihn hasserfüllt an und schwieg.
Der Richter rief die Versammlung noch einmal zur Ordnung und fragte die Zeugin dann: »Bleibst du bei deiner Aussage?«
Die Frau sah den Priester mit eiskalter Miene an und antwortete: »Ja, bei jedem einzelnen Wort.«
Beifall brandete auf, und Talitha konnte es nicht fassen.
Danach kam ein Diener zu Wort, der Folterungen an jungen S klaven, fast noch Kindern, beschrieb. Da brauste der Kleine Vater auf: »Dieser Mann hat in unserem Kloster nie gedient!«
»Das wissen wir besser«, erwiderte der Richter.
»Wie könntet Ihr das besser wissen als ich? Zwanzig Jahre lang habe ich dieses Kloster geleitet und weiß, wer hier gedient hat und wer nicht«, protestierte der Kleine Vater.
»Die Worte unserer Brüder und Schwestern sind für uns Beweis genug.«
Talitha wohnte diesem tragischen Schauspiel bis zum Ende bei. Es kam ihr alles so absurd, so unglaublich vor. Und doch war es die logische Konsequenz dessen, was sie in den vergangenen Monaten erlebt hatte: Die Sieger hatten alle Hemmungen gegenüber den Besiegten verloren, die Ideale der Rebellen verblassten und schlugen in blinde Gewalt um. Nicht bei allen Aufständischen allerdings. Talitha sah viele Gesichter in der Menge, die genauso fassungslos waren wie sie. Manch einer missbilligte sicherlich das, was da geschah, und fühlte sich ebenso betrogen wie sie selbst. Aber sie waren zu wenige, und gewiss würden sie es nicht wagen, dagegen zu protestieren.
Am frühen Nachmittag machte der letzte Zeuge endlich die Aussage. Das Gericht ziehe sich nun zurück, um sich mit den Ältesten zu beraten und die Urteile zu fällen, erklärte der Richter.
Talitha hielt es nicht mehr auf der Bank. Sie sprang auf und rief: »Dürfen sich die Angeklagten denn nicht verteidigen? Was ist mit Zeugen, die sie entlasten könnten?«
Schlagartig wurde es still.
Der Richter bedachte sie mit einem strengen Blick. »Alle Zeugenaussagen, die wir brauchen, haben wir gehört.«
»Aber auch die Angeklagten haben wichtige Aussagen zu machen. Kora, bitte, sprich!«
Während Talitha redete, zog Melkise sie am Arm, aber sie ließ sich nicht bremsen. Kora jedoch blieb sitzen und versuchte, sich zu verstecken.
»Hier ist eine Frau, die über wichtige Neuigkeiten zu unseren Feinden verfügt! Neuigkeiten, die den Ausgang dieses Krieges entscheidend beeinflussen könnten! Kora, tritt bitte vor!«
Die Femtiten blickten zu dem Käfig, und Kora wurde von ihren eigenen Leidensgenossen nach vorn ans Gitter gestoßen. Verloren schaute sie sich um.
»Dann erzähl!«, forderte der Richter sie mit strenger Miene auf.
Das Mädchen seufzte und gab sich einen Ruck, und mit zitternder Stimme erzählte sie ihre Geschichte, berichtete von Grele und Megassas Intrigen und Verschwörungen. Als sie
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