Nashira
Seite, in gehöriger Entfernung, führte der intakte Weg weiter.
Talitha beugte sich vor: Wie ein mit Felsspitzen und -vorsprüngen besetzter Schlund, der nur darauf wartete, sie zu verschlucken, gähnte unter ihnen der Abgrund, dessen Sohle sie kaum ausmachen konnte.
Talitha schwindelte und musste den Blick abwenden.
»Soll ich vorausgehen?«, fragte Saiph, der merkte, wie unwohl ihr war.
Da fuhr das Mädchen ihn an: »Hör endlich auf! Ich bin eine Kadettin, eine Diebin und auch eine Mörderin ... Wieso soll ich hier Angst haben?«
Doch Saiph war schon losgegangen. Er setzte den rechten Fuß auf das Seil und lehnte sich mit dem Körper gegen die Felswand, die Arme ausgebreitet, um besser Halt zu finden. Vorsichtig zog er den linken Fuß nach und bewegte sich langsam voran, während das schwankende Seil unter seinem Gewicht bedrohlich knarzte.
»Kein Problem, es geht ...«, rief er, um Talitha zu beruhigen. Dabei war er bleich wie ein Leintuch, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er sich bemühte, einen entschlossenen, selbstsicheren Eindruck zu machen. »Warte nur, ich bin gleich drüben. Dann bist du an der Reihe.«
Sie sah zu, wie er Schrittchen für Schrittchen vorrückte, und verfolgte mit pochendem Herzen die Bewegung jedes einzelnen seiner Muskeln.
Erst als er auf der anderen Seite angekommen war, konnte sie wieder normal durchatmen.
»Wirklich kein Problem, das schaffst du auch. Mach ganz langsam, lehne dich mit dem Körper gegen den Fels und schau vor allem nicht nach unten.«
Talitha nickte, gehorsam, wie sonst nie, stellte einen Fuß auf das Seil und presste sich flach gegen die Felswand. Ein Schritt, und schon schaukelte das Seil beängstigend hin und her. Sie schrie auf.
»Drück dich gegen den Fels!«, rief Saiph.
Noch fester presste sie sich dagegen, doch eine wahnsinnige Furcht erfasste sie.
»Bleib ganz ruhig. Atme tief durch und schieb dich langsam vor«, machte er ihr Mut.
»Ganz ruhig, ganz ruhig...«, gab sich Talitha selbst den Rhythmus vor, während sie kaum wahrnehmbar vorrückte.
»Das machst du wunderbar«, rief Saiph, doch seine Stimme
drang wie aus weiter Ferne zu ihr, fast gedämpft durch die von Angst benebelten Sinne.
Die Hälfte hatte sie geschafft, da ließ unter der Anspannung, die ihre Muskeln lähmte, ihre Aufmerksamkeit kurz nach. Es war nur ein kurzer Moment, aber er genügte, dass sie mit einem Fuß abrutschte. Bei dem Versuch, wieder sicheren Stand auf dem Seil zu finden, fiel ihr Blick nach unten. Sie schwebte mitten über der Schlucht. Unter ihr fielen die Wände viele Dutzend Ellen mit Kanten und Vorsprüngen bis zu einem Grund mit schwarz-glänzendem Gras in die Tiefe ab.
Sie schrie ihr ganzes Entsetzen hinaus und klammerte sich verzweifelt an der Felswand fest.
»Nicht runterschauen! Nicht runterschauen, Talitha!«, versuchte Saiph sie zu beruhigen.
Doch das Mädchen rührte sich nicht mehr, die Panik lähmte sie.
»Nicht aufgeben. Die Hälfte hast du geschafft. Komm, bitte ...!«
»Nein, nein, ich schaff das nicht ... Ich ... ich ... schaff das nicht ...«, stammelte sie mit erstickter Stimme.
Saiph brach der kalte Schweiß aus. »Komm einfach zu mir ... Vertrau mir«, rief er und tat, als wäre er ganz ruhig.
»Ich kann die Hände nicht loslassen!«
»Das hast du doch schon. Mach einfach so weiter!«
Endlich holte Talitha tief Luft und setzte langsam, ganz langsam ihren Weg fort. Dabei kniff sie die Augen zu.
»Nein, wenn du die Augen zumachst, wird es nur schlimmer. Schau mich an.«
Langsam öffnete sie das eine Lid, dann das andere. Vor sich sah sie Saiph, der lächelnd die Hände zu ihr ausstreckte.
Da löste sich allmählich der Knoten in ihrem Magen. Stück für Stück hangelte sie sich weiter vor. Ihre Handflächen waren so verschwitzt, dass Spuren davon auf dem Fels zurückblieben. Noch ein Schritt, und wieder einer, und noch einer. Schließlich ein Sprung, und sie landete in Saiphs Armen. Außer sich vor Freude, drückte er sie fest an sich. Sie hatte es geschafft; sie hatte es wirklich geschafft.
»Fantastisch, du warst fantastisch«, murmelte er.
Sofort löste sie sich aus seinen Armen und blickte ihn hochnäsig an. »Ach, das war doch ein Kinderspiel«, erklärte sie schulterzuckend.
Saiph prustete los.
Je weiter sie kamen, desto steiler, desto beschwerlicher wurde der Weg, und abends spürte Talitha ihre Beine kaum noch.
Zudem wurde es bald rasch unangenehm kalt, und war es tagsüber die
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