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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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ihre Erlaubnis eingetreten war.
    »Komm rein«, befahl sie. Erst jetzt tat Talitha den ersten Schritt.

    Die Zelle war mindestens dreimal so groß wie ihre eigene. Die Einrichtung bestand nur aus dem Nötigsten, aber die vorhandenen Möbel waren besonders schöne Stücke; das Bett war aus Gusseisen und mit einem Blumenmuster verziert, der Schrank aus erlesenen Hölzern, und der Schreibtisch mit dem samtgepolsterten Stuhl davor wirkte bequem und geräumig. Eine Seite wurde ganz von einem vollen Bücherregal eingenommen, und durch das breite Fenster zog ein feiner Harzduft herein.
    Es war ein lebendiges Zimmer, das über die Person, die dort wohnte, einiges verriet; über ihre Strenge, aber auch über den Respekt, den man ihr schuldete. Für Talitha war es das genaue Gegenteil ihrer eigenen Zelle, die so schmucklos und unpersönlich wie diese hier gemütlich und – soweit es sich für eine Priesterin noch ziemte – luxuriös war.
    »Rück dir den Hocker heran und setz dich«, sagte Schwester Dorothea, wobei sie auf den Schreibtisch zeigte, und nahm dann selbst davor Platz. Verglichen mit dem kleinen Hocker wirkte ihr Schreibtischstuhl besonders mächtig, sodass die Frau sie nun regelrecht überragte. Das Mädchen fühlte sich wie vor einer Richterin, wie die Angeklagte in einem Prozess, in der ihr die Anklagepunkte völlig unbekannt waren. Die Frau reichte ihr ein Buch.
    »Lies das erste Kapitel.«
    Talitha öffnete es und begann. »Im Anfang schwebte Mira allein über den grenzenlosen Ozeanen des Nichts. Nur Wasser und Chaos gab es, aber Nashira noch nicht. «
    Sie las das gesamte Kapitel. Darin wurde erzählt, wie Mira aus dem Ur-Ozean Nashira schuf, und auf Nashira dann einen bewohnbaren Teil, Talaria genannt. Wie Mira dieses Land mit auserwählten Geschöpfen, den Ersten besiedelte,
von denen später die Talariten abstammten. Aus ihrem eigenen Leib schuf Mira auch die anderen Götter: Alya, Kerya, Man und Van. Und natürlich Cetus, den jüngsten und am innigsten geliebten. Doch Cetus verriet sie: Eifersüchtig auf die Ersten und die Liebe, mit der Mira diesen zugewandt war, versuchte er, diese zu vernichten. Doch Mira kam ihm zuvor. Sie verließ ihre Heimstatt im Innersten der Erde und trat am Himmel Cetus entgegen. Viele Jahrhunderte währte dieser Krieg und fand seinen Höhepunkt in einer letzten Schlacht, in deren Verlauf die gesamte Ordnung des Kosmos umgestürzt wurde. Die Gewalt der Schläge, mit denen sich Mira und Cetus bekämpften, ließ die Ozeane austrocknen und die Erde verdorren, und die Ersten starben aus. Aber auch die beiden Gottheiten trugen schwerste Verwundungen davon. Um sicherzustellen, dass Cetus keine Übeltaten mehr begehen konnte, setzte Mira ein Abbild ihrer selbst, die Sonne Miraval, an den Himmel, die bis in alle Ewigkeit Cetus an sich band und seine Macht im Zaum hielt.
    »Aus diesem Grund sehen wir Miraval und Cetus immer gemeinsam am Himmel «, las Talitha zu Ende vor.
    »Natürlich gilt das nur für jene, die würdig sind, sie anzuschauen«, stellte Schwester Dorothea klar.
    Doch nicht alle Ersten waren tot. Ein Einziger hatte sich retten können, allerdings verwundet und ohne jene besondere Eigenschaft, die dieses Geschlecht einmal ausgezeichnet hatte: die Unsterblichkeit. Aus diesem bedauernswerten Geschöpf schuf Mira eine neue Rasse: die Talariten.
    All dies wusste Talitha eigentlich schon, weswegen es ihr noch schwerer fiel, aufmerksam zu bleiben. Ihr Magen rebellierte, die Müdigkeit war übermächtig, und zu allem Überfluss erläuterte Schwester Dorothea jeden Abschnitt auch
noch einmal mit einschläfernder Stimme. Doch als Talitha die Augen zufielen, musste sie die linke Hand geöffnet auf den Tisch legen, und die Erzieherin versetzte ihr einen Schlag mit der Rute. Nachdem diese sie dann endlich das Buch zuklappen und gehen ließ, war ihre Handfläche rot und geschwollen.
    Talitha durchlief den Korridor zu ihrer Zelle. Eine unwirkliche Stille hatte sich breitgemacht, die nur von den Lauten der turtelnden Vögel unterbrochen wurde. In Messe war ihr Zwitschern nie so deutlich und so nah zu hören gewesen. Sie schienen sie auffordern zu wollen, sich gehen zu lassen, sich in diesem verlassenen Flur einfach auf den Boden zu legen und sich der Grabesruhe dieses vom wahren Leben abgeschiedenen Orts zu ergeben, das frei und rein Hunderte von Ellen unter ihr pulsierte.
    Sie ballte die Fäuste so fest, dass ihr die Fingernägel ins Fleisch schnitten, und lenkte ihre Gedanken auf

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