Nashira
die Kadettenkleider und den funkelnden Dolch, die Saiph unter Lebensgefahr hergeschmuggelt hatte. Sie durfte sich nicht ergeben. Diese Priesterinnen hatten sich vorgenommen, Saiph zu quälen und ihr selbst jeden Widerstandsgeist, jede Spur einer eigenständigen Persönlichkeit auszutreiben. Sie musste fort. Doch zunächst einmal musste sie die Botschaft entschlüsseln, die ihre Schwester ihr hinterlassen hatte. Das war sie ihr schuldig, und das würde sie auch tun, koste es, was es wolle.
14
A uch in den nächsten Tagen änderte sich wenig.
Obwohl Talitha immer fast die ganze Nacht über ihren Büchern hockte, konnte sie, wenn Schwester Dorothea sie abfragte, die Hymen und Gesänge immer noch nicht fehlerlos aufsagen. Wenn sie so dastand und sich stockend die Worte abrang und verzweifelt ihr durch den fehlenden Nachtschlaf lahmes Gedächtnis durchforstete, blickte Grele sie mit aufmerksamer, undurchschaubarer Miene an, um dann, sobald Talitha die kleinste Unsicherheit zeigte, sofort die Hand zu heben und sie zu verbessern. Schwester Dorothea schien nur darauf zu warten, erteilte ihr stets das Wort und hörte ihr mit zufriedener Miene zu.
»Schwester Dorothea, es heißt ›ruhmreich‹, nicht ›ruhmvoll‹.«
»Schwester Dorothea, sie hat die ersten beiden Strophen vertauscht.«
Und so fand sich Talitha fast täglich abends beim gemeinsamen Essen auf der Kniebank wieder.
An einem Abend kniete sie dort ganz allein und las mit sicherer, stolzer Stimme. Wenn sie selbst keine Scham zeigte, würden auch die anderen sie nicht bedauern. Mitleid war das, was sie am wenigsten ertrug.
»Was liest du denn so komisch, in diesem überheblichen Ton?«, fuhr Grele sie an, als sie danach vor dem Tempel aufeinander trafen.
»Wieso? Ich hab nur meine Aufgabe erfüllt«, antwortete Talitha, entschlossen, sich nicht wieder auf einen Streit einzulassen.
»Die Aufgabe einer Priesterin besteht darin, zu lernen und zu beten, und nicht, sich jeden Abend bestrafen zu lassen, weil sie zu dumm ist, ein paar Zeilen auswendig zu lernen.«
»Du weißt ganz genau, weshalb Schwester Dorothea mich jeden Tag bestraft.«
»Natürlich. Weil du nicht hierher gehörst. Dein Platz ist unten in der Stadt, bei irgendeiner stupiden weltlichen Arbeit.«
»Da muss ich dir ausnahmsweise mal Recht geben.«
Kora zog sie fort. »Lass doch, wir dürfen nicht zu spät zum Gebet kommen.«
In diesen ersten Tagen konnte ihr auch Saiph keine Hilfe sein. Ihre Begegnungen waren nur flüchtig: Wenn er morgens zusammen mit Mantes bei ihr eintrat, wagte er nicht, selbst das Wort an sie zu richten, sondern redete nur, wenn sie ihn etwas fragte, wobei er sie dann, wie jeder andere Sklave auch, mit »Ihr« ansprach. Dann kreuzten sich ihre Wege wieder bei den Mahlzeiten, aber auch da hatten sie keine Gelegenheit, sich auszutauschen. Saiph kam ihr immer blasser und ausgezehrter vor, und häufig erkannte sie in seinem Blick den Ausdruck ausweglosen Schreckens. Ganz offensichtlich wurde er in einem fort mit dem Strafstock traktiert, und sie konnte nichts dagegen tun.
Nur dank der Freundschaft zu Kora sowie der Stunden bei Schwester Pelei stand Talitha das alles durch. Kora war so etwas wie ein Rettungsanker für sie, denn in allem, was schlecht war, entdeckt sie noch eine gute Seite. Sie verfügte über eine wache Intelligenz, glänzte in jedem Fach und besaß zudem
noch eine außergewöhnlich starke Resonanz. Schwester Pelei lobte sie immer wieder und stellte sie als leuchtendes Beispiel für Talitha hin, die mehr und mehr begriff, dass Grele nicht nur sie, sondern auch Kora hasste. Deswegen machte sie sich auch häufig einen Spaß daraus, Kora mit gemeinen Bemerkungen über ihre einfache Herkunft bloßzustellen.
»Du solltest es ihr mit gleicher Münze heimzahlen«, sagte Talitha eines Tages zu ihr.
»Wozu?«
»Wozu? Das ist doch klar. Um die Ehre deiner Eltern zu verteidigen. Um ihr klarzumachen, dass es keine Schande ist, von ehrbaren Kaufleuten abzustammen.«
»Glaubst du das tatsächlich?« Koras Blick war dermaßen entwaffnend, das Talitha in Verlegenheit geriet. »Überleg doch mal, wie es in unserer Welt zugeht: Du und Grele, ihr seid dazu auserwählt, einmal hohe Ämter zu bekleiden, und wetteifert um den Platz der Kleinen Mutter. Wer weiß, vielleicht wird eine von euch eines Tages Mutter des Sommers oder sogar Große Mutter sein. Aber auch wenn ihr nicht ins Kloster gekommen wäret, hätte euch das Tor zu einer strahlenden Zukunft weit offen
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