Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Erinnerungen, ein gescheiterter Traum von Freiheit ohne Verantwortung, und sie wünschte, die Abrissbirne würde endlich ihre Arbeit tun.
     
    Aber Nashvilles Verschwinden hatte sie alle wieder zusammengebracht, die ganze Clique aus dem besetzten Haus. Selbst die flammenhaarige Christin tauchte auf, um zu helfen. Sie schien mit Thierry und Kater Carlo in einer experimentellen Dreierbeziehung in einem Bauwagen zu leben, die Svenja herzlich wenig interessierte.
    In der nächsten Histologieklausur, einer Klausur ohne Friedel, schrieb sie nur ihren Namen aufs Blatt.
    Ihr Vater rief an und erzählte tausend Dinge über sein Leben, in dem alles schieflief, und fragte, wie es ihr ginge.
    »Wunderbar«, sagte sie. »Ich erzähle es dir ein andermal.«
    Ihre Mutter rief an und fragte, was verkehrt sei.
    »Alles«, sagte sie. »Aber ich will jetzt nicht darüber reden.«
     
    Er lag flach auf dem Rücken, als er den Lärm der Baumaschinen draußen hörte. Die Kälte hatte ihn so steif gemacht, dass er sich kaum noch rühren konnte. Aber er verstand im Moment des Lärms etwas.
    Die Baumaschinen waren gekommen, um ihre Arbeit zu tun. Ihre Arbeit war es, einzureißen, abzureißen, umzureißen. Und er verstand, dass es schneller gehen würde, als er gedacht hatte.
    Einen Moment lang war er dankbar dafür. Im nächsten Moment packte ihn die Panik, und er schaffte es doch, auf die Füße zu kommen. Er hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Wand. Schrie. Fluchte. Spuckte Ärger und Wut und Verzweiflung gegen die alten Steine.
    »Hier! Ich bin hier! Holt mich raus! Ihr dürft das nicht! Ihr dürft die Wände nicht einreißen! Den Raum nicht zuschütten! Ich bin hier! Ich …« Er merkte, dass er gar nicht schrie, sondern flüsterte. Er hatte seit Tagen nichts getrunken als das Kondenswasser, das er von den Steinen des Raumes leckte wie ein Tier, seine Kehle war trocken wie Leder. Er sank wieder auf den Boden, völlig erschöpft, und die Baumaschinen lärmten weiter, weit weg und doch zu nah.
    Und dann, ganz plötzlich, hörten sie auf zu lärmen. Die Stimmen und das Dröhnen der Motoren entfernten sich. Sie kamen nicht wieder. Aus irgendeinem Grund hatten sie ihr Vorhaben aufgegeben.
    Wenn er noch Tränen gehabt hätte, hätte er geweint. So lag er nur da und starrte in die Dunkelheit. Es hätte schnell gehen können. Ein Haufen Geröll, das auf dich fällt. Ein Regen aus Steinen, keine Luft mehr, Ende.
    Aber nun würde es nicht schnell gehen, es würde genauso langsam gehen, wie er befürchtet hatte.
    Er hatte aufgehört, die Tage zu zählen.
     
    Sieben Tage. Zehn. Zwölf.
    Am dreizehnten Tag fanden sie Nancy. Kater Carlo brachte die Zeitung mit zur Neckarmauer. Das Bild war unscharf, aber scharf genug.
    »Sie war länger verschwunden als Nashville«, sagte Katleen und legte einen tröstenden Arm um Svenja.
    Nancy hatte zwischen den Bäumen am Fuß des Österbergwaldes gelegen, im dichten Gebüsch, genau wie Sirja, nur weiter unten. Die Schnitte an ihrem Hals waren diesmal tief genug. Sie hatte keine Chance mehr gehabt, sich zu wehren.
    »Immerhin war unser Mörder klüger als bei dem Jungen im Wehr«, sagte Thierry. »Ich weiß, was er gedacht hat. Er hat gedacht: Hey, die Leiche von Nashvilles Mutter haben sie ewig nicht gefunden, das war eine bessere Idee als der Fluss. Legen wir die Nancy hübsch in den Wald am Österberg. Da liegt sie lange still.«
    »Irrtum«, sagte Katleen. »Lies mal genauer. Sie ist ungefähr vor drei Tagen gestorben.«
    Svenja merkte, wie ihr leicht schwindelig wurde. »Ich glaube, ich gehe nach Hause«, sagte sie.
    Die anderen sahen ihr nach.
    Sie fragte sich, ob sie begriffen hatten, was das alles bedeutete.
    Als sie Gunnar die Zeitung mit dem Bild zeigte, ballte er die Hände zu Fäusten und saß lange sehr still. Er hatte Nancy einmal gerettet, und es hatte nichts genützt. Beim zweiten Mal hatte das Messer gründlicher und berechnender gearbeitet. Die Schatten unter seinen Augen waren nie tiefer gewesen.
    »Die Welt ist schlecht«, sagte er. »Wir werden sie nicht besser machen. Das Prinzip, ein Ideal anzustreben, ist letztendlich Unsinn.«
    »Glaubst du,
er
war das?«, flüsterte sie. »Glaubst du, er war es? Glaubst du das wirklich? Ich sehe es dauernd vor mir. Ich sehe vor mir, wie er mit dem Messer da steht … Aber warum? Warum, Gunnar?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Gunnar. Es war ein Satz, den er in letzter Zeit häufig sagte.
    Sie hielten die Totenmesse für Nancy am nächsten Tag auf

Weitere Kostenlose Bücher