Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
dagegen«, flüsterte sie, »wenn ich dich küssen würde? Ich wollte das immer tun, und es wäre etwas, was noch zu erledigen ist.«
Er schüttelte den Kopf. Er hatte nichts dagegen. Das erstaunte sie beinahe, ehe sie sich bewusst wurde, dass es nur eine Vorstellung war. Seine Lippen waren seltsam vertraut auf ihren, so wie der ganze Gunnar vertraut war. Er zog seinen Pullover aus und sie ihr zu großes Hemd, sie spürte seine Haut an ihrer, und auch dieses Gefühl war vertraut. Es kam ihr vor, als hätten sie dies schon tausend Mal getan und würden es noch tausend Mal tun, und dennoch ahnte sie, dass dies das erste und das letzte Mal war.
»Gunnar? Ist das okay für Julietta? Sie taucht nicht plötzlich auf oder …«
»Nein«, sagte er, »bestimmt nicht.«
»Dann ist alles gut«, sagte Svenja. »Kannst du mich einen Augenblick festhalten? Ich muss mich selber zwingen, zu begreifen, dass Nashville nicht wiederkommt.«
Und er hielt sie fest, ganz fest, und seine haltenden Hände wanderten nach unten und lösten die Knöpfe ihrer Jeans, was ein besserer Trost und eine bessere Ablenkung war als alles andere. Das Blau vor dem Fenster wurde dunkler, aber nicht weniger weich. Gunnar war nicht da, es war alles nur eine Vorstellung, und Svenja stand ganz alleine vor dem Fenster, löste ganz alleine die Jeansknöpfe und ließ ganz alleine die Hand zwischen ihre Beine wandern. Sie schloss die Augen.
Die Szene spielte sich in ihrem Kopf weiter ab, sie brauchte diese eine Szene mit Gunnar, um mit allem weiterzumachen, weiterzuleben.
Sie war er, ihre Finger waren seine Finger, und das Kamasutra war ein Kinderbuch. Gut, dass sie es in den Kanal geworfen hatte.
Sie standen die ganze Zeit über am Fenster in dem dunklen Zimmer.
Sie hörte sich seinen Namen sagen, im Rhythmus. »Gunnar. Gunnar, Gunnar.«
Als das Ganze dabei war, sich zu einem Crescendo zu entwickeln, als sie kurz vor der Auflösung aller Spannung stand, hörte sie hinter sich ein Geräusch wie das Atmen eines anderen Menschen. Sie fuhr herum, panisch, ertappt.
In der offenen Tür stand Gunnar. Der reale Gunnar. Sie fror mitten in der Bewegung ein. Wann war er nach Hause gekommen? Wie lange stand er schon so da und beobachtete sie, das verrückte kleine Mädchen, das in seinem Bügelzimmer am Fenster stand, die Jeans geöffnet, die Hand in eindeutiger Position zwischen den Beinen …?
Oh, bitte, mach die Tür zu. Verschwinde. Tu so, als wärst du nie hereingekommen.
Er tat nichts dergleichen. Er kam mit drei langen Schritten durch den Raum zu ihr herüber und legte seine Arme von hinten um ihren nackten Oberkörper.
»Ich habe meinen Namen gehört«, flüsterte er. »Vielleicht kann ich helfen.«
Und dann kam der Tag, an dem Nashville aufgab.
Das Letzte, was er – lautlos – sagte, war: »Ich sehne mich nach dem Akkordeon. Ich sehne mich so. Schmeiß es nicht weg, Svenja, ja? Grüß
Lili Marleen
von mir.«
Er stellte sich vor, wie er wieder neben Svenja im Bett lag, im Dachzimmer des Hauses Nummer drei. Er spürte den Kuss unter der Brücke noch einmal und ihren Arm um seine Schultern. Dann schlief er ein.
Er merkte nicht, dass draußen in diesem Moment etwas losbrach, etwas Gewaltiges und Lärmendes, etwas, das die Bäume und die Straßenlaternen schüttelte.
Ein Gewitter. Nein, kein Gewitter, ein Sturm. Nein, kein Sturm, ein Orkan. Ein Weltuntergang.
Es werden Böen bis zu Windstärke elf erwartet. Im Anschluss an die Nachrichten folgt eine Unwetterwarnung.
Natürlich hörte er nichts davon, was das Radio sagte, er hörte gar nichts, höchstens das weit entfernte Heulen des Windes, ehe er einschlief.
Svenja lachte leise, er lachte mit ihr, aber nur für Sekunden, dann war keine Zeit mehr zum Lachen. Auch keine Zeit, Namen zu sagen, was ohnehin eine unsinnige Übung ist. Sie fühlte Gunnars Körper an ihrem Rücken, die ganze Szene glitt aus ihrer Vorstellung in die Wirklichkeit hinüber, aber alles war ganz anders.
Nichts war vertraut.
Er war zu schnell, trotz der Vorarbeit, seine Finger waren weniger geduldig als ihre, er tat ihr weh, als er in sie eindrang, merkte es und entschuldigte sich im gleichen Atemzug dafür.
»Schon gut«, flüsterte sie. »Alles gut.« Er nahm ihre Hände und führte sie zurück dorthin, wo er sie gefunden hatte, als er in die Szene hereingeplatzt war. Er wollte, dass sie weitermachte, er war nur ein Teil des Spiels.
Vor dem Fenster bäumte der Fluss sich auf, schoss als Springflut hinter der
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