Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
»Beweg dich! Rauf! Runter! Hinknien! Schneller!« Wenn er völlig erschöpft auf dem Boden zusammengebrochen war, hatte sie ihn aufgehoben und ihn in die Arme genommen. Ihre Arme waren groß und weich gewesen, und sie hatte gesagt: »Du weißt doch, warum. Es ist nur, damit wir nicht erfrieren.«
Hier schrie niemand ihn an, alles war still. In der Ferne gab es die Geräusche von Autos, sonst nichts. Niemand war da, um ihm zu sagen, er sollte sich bewegen, und er wusste, dass der Tag kommen würde, an dem er es bleiben ließ. An diesem Tag würde er in der Kälte einschlafen wie das Mädchen aus dem Märchen mit den Schwefelhölzern. Es war ohnehin schwierig, Tag und Nacht zu unterscheiden. Er zerriss den Zettel in winzig kleine Stücke, immer weiter, bis die Fetzen waren wie Schneeflocken.
Irgendwann begann er, mit sich zu reden, um nicht völlig verloren zu gehen.
»Ich fange an, sie zu vergessen«, sagte er laut. Seine Stimme klang ganz anders in dem Raum, sie hallte von den Wänden wider wie die Frage
WARUM
, sie klang um Jahre zu jung. »Sirja, Sirja … irgendwann werde ich nicht mehr wissen, wie sie ausgesehen hat. Ich wollte dir das erzählen, dass ich sie vergesse. Dass da manchmal dein Gesicht ist, wenn ich an sie denken will …«
Denn er sprach nicht zu Sirja, in der Dunkelheit zwischen den fensterlosen, lampenlosen, kahlen Wänden. Er sprach zu der Person, die ihn hierhergebracht hatte.
»Ich liebe dich«, sagte er zu der Person. »War das dein Problem? Hast du das nicht ausgehalten? Ich hab dir vertraut. Wirklich. Ich wäre überall für dich hingegangen.«
Einmal hatte er geglaubt, sie von weit fort seinen Namen rufen zu hören, im Traum. Aber als er erwacht war, war die Dunkelheit so still gewesen wie zuvor.
Er fuhr mit dem Finger über eines der Messer. Die Messer waren alles, was er hatte, er hatte sie mitgebracht, in Sirjas blaugraues Halstuch eingeschlagen. Er legte die kühle Schneide von Sirjas Taschenmesser gegen seine Wange. »Ich sterbe«, flüsterte er. »Du weißt das. Ich weiß es auch. Ich bin nicht dreizehn, das stimmt nicht, noch lange nicht. Aber ich weiß, dass ich sterbe, das kann man auch wissen, wenn man erst elf ist. Warum wolltest du, dass ich sterbe? Gerade hier? Warum wolltest du das, Svenja?«
Kater Carlo zeichnete Nashvilles Gesicht, und sie vervielfältigten die Plakate.
WER HAT MICH GESEHEN ?
ICH HEISSE NASHVILLE ,
STEHE DIE HÄLFTE DER ZEIT AUF DEM KOPF UND HABE PANISCHE ANGST VOR DEM GERUCH VON LIMETTEN .
VIELLEICHT SITZE ICH AUCH AUF EINEM SEHR HOHEN DACH ODER EINEM BAUM.
Thierry hatte den Text geschrieben. Svenja fand ihn zu lustig.
»Er ist nicht lustig«, sagte Katleen. »Er ist wahr.«
Und die Zeit auf der Uhr tickte davon. Die Minuten und Sekunden zerrannen unwiederbringlich, es würde neue Minuten und Sekunden geben, aber diese waren für immer fort: verlorene Minuten ohne Nashville.
Manchmal saßen sie abends auf der Mauer am Neckar und rauchten Kater Carlos Balkongartengras und erzählten sich gegenseitig, wo sie Nashville nicht gefunden hatten: im Paradiesgarten auf dem Österberg. Vor den Supermärkten. Beim Schloss. In den Unterführungen. Zwischen den schrägen Blumenbeeten, die nicht mehr Friedels Großeltern gehörten. Kater Carlo fuhr sogar hinaus nach Hohenentringen, wo Nashville ebenfalls nicht auf dem Dach saß. Svenja ging – allein – zum Haus Nummer drei, das so verriegelt und verschlossen war wie an dem Tag, an dem sie es verlassen hatten. In den grünen Schatten des zerbrochenen Ahorns fand sie nichts als die Melancholie einer vergangenen Zeit. Der Wind fegte altes Papier über die Kellertreppe neben der Eingangstür. Die Tür zum Keller war nicht verriegelt.
Wie lange war es her, dass sie hier die angeschimmelte Matratze für ihren Vater geholt hatte? Monate? Jahre? Im zweiten der Kellerräume tropfte Wasser aus einem undichten Rohr in der Decke, und Svenja blieb stehen und lauschte den klingenden Tönen der einzelnen Tropfen. Neben der Pfütze lag der Kadaver einer Ratte.
Svenja schüttelte sich, drehte sich um und verließ den Keller. Nicht einmal Nashville würde sich an einem so lichtlosen, trostlosen, hoffnungslosen Ort verstecken. Sie rief seinen Namen. Nur, um überall gesucht zu haben. Sie bekam keine Antwort.
Und war dankbar, als sie an diesem Tag Gunnars Wohnung betrat, wo sogar im Keller eine beruhigende und freundliche Ordnung herrschte. Das Haus Nummer drei war selbst nur noch ein leerer Kadaver aus
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