Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Seidenärmel um sie. Doch der Arm hatte eine erstaunliche Entschlossenheit. »Wir finden ihn«, sagte sie. »Egal, was er ist – er ist ein Kind.«
Sie fanden ihn nicht.
Gunnar schlief kaum. Svenja hörte, wie er sich in seinem Bett im Nebenzimmer hin und her wälzte, und manchmal hörte sie ihn aufstehen und die Wohnung verlassen. Er suchte, ganz alleine, da draußen in der Dunkelheit. Es regnete wieder häufiger.
Svenja träumte jede Nacht vom Österberg. Sie schlief mit dem Akkordeon in den Armen. Warum hatte er das Akkordeon nicht mitgenommen? Aus den Tasten sickerten manchmal ein paar Töne wie Erinnerungen.
Und dann gab sie auf und klingelte in der Madergasse.
»Katleen?«, fragte sie in die Gegensprechanlage. »Du hast gesagt, ich soll mich melden, wenn ich Hilfe brauche. Ich brauche Hilfe. Ich brauche mehr Leute, die suchen.«
Katleen umarmte sie schweigend. Es kostete nur einen Anruf, die Bauwagensiedler in die Stadt zu holen. Sie trafen sich im
Pfauen
. Gegenüber war eine Fleischerei – es fiel ihr zum ersten Mal auf –, die sehr scharfe Messer im Fenster hatte. Ihr wurde schlecht, als sie sie zu lange betrachtete.
Die anderen hörten sich die Geschichte an, ohne sie zu unterbrechen.
»Wie lange ist er jetzt weg?«, fragte Thierry schließlich.
»Fünf Tage«, sagte Svenja. »Es kommt mir vor wie fünf Wochen.«
»Wir finden fünf Nashvilles für dich, wenn es muss sein«, sagte Kater Carlo. »Wir machen Liste, wir suchen jede Ort. Hast du eine Stift, ich zeichne Porträt für vermisstes Plakat. Du gibst aus eine Frühstück, ich kann essen, während ich zeichne?«
»Natürlich«, sagte Svenja. »Ich habe wieder Geld. Und es ist auch egal. Ich löse mein Konto auf und schmeiße die Münzen einzeln in den Neckar, wenn es hilft. Limetten übrigens. Es hat etwas mit Limetten zu tun. Limetten erinnern ihn an die Nacht auf dem Österberg. Sagt euch das was?«
»Limetten sind in Caipi«, sagte Thierry träumerisch, aber das wusste Svenja schon.
Es gab einen Augenblick, in dem sie mit Friedel allein war, drinnen, als sie darauf wartete, an der Theke bezahlen zu können.
»Was ist mit Gunnar?«, fragte Friedel leise. »Bist du mit ihm zusammen oder nicht?«
»Friedel. Wie wichtig ist das im Moment?« Sie wurde beinahe böse.
»Es ist wichtig«, sagte Friedel eigensinnig.
»Du bist ein Idiot, Friedel«, sagte Svenja. »Und du bist besessen von dem Gedanken, dass du mich zurückkriegst. Du hattest mich nie.«
»Na ja«, sagte Friedel. »Das kann man so und so sehen …«
»Gott«, zischte Svenja gereizt. »Ich dachte, wir könnten Freunde sein! Ich hätte theoretisch eine Menge gut bei dir. Du hast mich in diesem abbruchreifen Haus einquartiert, ohne mir was zu sagen von den morschen Balken, und du hast …«
»Und
du
hast keine Ahnung«, sagte Friedel.
»Danke«, sagte Svenja. »Aber du, ja? Wenn du so viel Ahnung hast, dann finde Nashville. Du rennst ja sowieso die ganze Nacht in der Stadt rum und betrinkst dich.«
»Lass ihn, Svenja«, sagte Katleen, die hinter ihnen aufgetaucht war. »Du hast tatsächlich keine Ahnung.« Svenja fragte sich, was sie meinte. Aber ihr fehlte die Zeit, darüber nachzudenken.
Das Schlimmste war die Kälte.
Er hatte sich zu einem Ball eingerollt wie ein winziges Tier, hatte die Arme um die Knie geschlungen, um der Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Sie kam trotzdem. Sie biss und riss und zerrte an ihm wie ein Hund. Ein Ort, den das Sonnenlicht nie erreicht, ist natürlich kalt. Aber ein Teil der Kälte, vielleicht der größte, kam von innen. Immer, wenn er die Tür in seiner Erinnerung wieder zuschlagen hörte – wenn er wieder hörte, wie die Schritte sich entfernten –, wuchs die Kälte.
Er hielt den Zettel immer noch in den Fingern, den Zettel mit der Botschaft. Er war so stolz gewesen, dass er ihn hatte lesen können. Er hatte es ihr erzählen wollen: »Ich habe den Zettel gelesen! Ganz alleine! Hier bin ich. Weshalb wolltest du mich treffen? Gerade hinter dieser letzten Tür?«
Die Tür war zugefallen, ehe er die Worte hatte sagen können.
Warum hatte sie das getan?
Warum?
Die Frage hallte an den Wänden des Raumes wider. Er war sie mehrfach abgelaufen – nicht so sehr, um herauszufinden, wie groß der Raum war, dieser absolut dunkle Raum. Sondern weil er wusste, dass er sich bewegen musste. Er zwang sich, auf der Stelle zu rennen, zu hüpfen. Er erinnerte sich an all die Winter, in denen Sirja ihn angeschrien hatte:
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