Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
von
Experimenten mit Vorbildfunktion
aufgenommen werden.
Der Mond fand sie eine Weile später, im warmen Wasser nebeneinander auf dem Rücken liegend, sich an den Händen haltend.
»Friedel«, flüsterte Svenja, »wirst du aufhören?«
»Zu studieren oder mich zu betrinken?«
»Beides.«
»Wirst du Nashville zurückgeben?«
»Zurück? Wohin zurück? Es gibt kein Zurück.«
»Eben«, sagte Friedel.
Sie trockneten sich mit Svenjas Hose ab – dem einzigen trockenen Kleidungsstück, das sie besaßen. Und sie dachte, dass das doch ein schönes Bild war: zwei Menschen, die sich nachts an einem Brunnen mit einer Hose abtrocknen. Aber natürlich sah niemand sie.
Dachte Svenja.
Die Ermittlungen betreffs der ermordeten Obdachlosen am Österberg stagnierten. Sämtliche anderen wohnungslosen Individuen oder in der Straße musizierenden Personen wurden befragt. Alibis waren schwierig zu überprüfen. Dennoch reichte es bei keinem für eine Festnahme. Polizisten patrouillierten jetzt in der Stadt, sobald es dunkel wurde. Zu Anfang sehr regelmäßig. Dann weniger regelmäßig. Die Zeitung hatte nur Nebensätze auf hinteren Seiten für den ungeklärten Mord an Sirja, der Löwin, übrig. Niemand war traurig darüber. Tübingen war – ist – eine ordentliche und aufgeräumte Stadt. Ohne Morde. Und ohne Obdachlose.
»Wenn ich auf den Turm klettere, kann ich anders denken«, sagte Nashville ein paar Tage später.
Er stand auf dem Kopf im Schrank, mal wieder, und musterte Svenja von unten herauf. »Von oben ist es einfacher, Dinge zu verstehen, das ist wie mit den Vögeln, die die Umrisse der Kontinente nur von oben begreifen. Ich glaube, ich könnte mich dann erinnern. Besser erinnern. An die Nacht. Man sieht den Wald vom Turm aus, und … ich könnte sie vielleicht noch mal sehen.«
»Sehen? Wen?«
»Sirja, die Löwin.« Er schwieg einen Moment lang. »Meine Mutter.«
Svenja seufzte und packte ihre Bücher zusammen. Sie hatte versucht, für einen Termi-Test zu lernen, aber jetzt diskutierte sie seit einer halben Stunde mit Nashville darüber, dass er zum Österbergturm wollte.
Immerhin war es die erste Diskussion, die sie je gehabt hatten, anders als die einseitigen Wortwasserfälle.
»Gut«, sagte sie. »Wir fahren. Am Sonntag. Wenn die Sonne scheint. Wir machen einen spießigen Ausflug mit Picknickkorb, wir verkleiden uns quasi … Und wir nehmen irgendwen mit, ich will nicht alleine mit dir da hoch auf den Berg. Das ist mir zu nah bei diesem Wald.«
»Aber …«
»Wir nehmen jemanden mit. Auch wenn du dann die ganze Zeit schweigst. Ich weiß, es ist Unsinn, aber … ich habe Angst, dass der Typ mit dem Dolch da in der Nähe herumhängt.«
»Ja, Unsinn«, sagte Nashville, ohne seine kopfstehende Stellung im Schrank aufzugeben. »Aber es wäre gut. Dann weiß ich endlich, wer er ist.«
»Um … was zu tun?«
Er kam auf die Füße, stand einen Moment lang vor ihr und sah sie nur an. Es gab keine Worte mehr an diesem Tag. Er hatte sie alle aufgebraucht.
Nach dem nächsten Präp-Kurs stand Svenja draußen bei den alten Obstbäumen und rauchte ein oder zwei Zigaretten mehr als notwendig. Die HNO lag so türkis und steril in der Landschaft wie immer. Ein leichter Nieselregen fiel. Niemand saß draußen und trank Kaffee.
»Hey, Gunnar.«
»Hey.« Und dieser Blick, dieser Sommersprossenblick.
»Ich sah dich gerade, und da habe ich mich gefragt … hättest du zufällig Lust, am Sonntag mit auf einen Ausflug zu kommen? Der Junge, der mir zugelaufen ist, du weißt schon … Er spricht jetzt. Gunnar, es gibt tausend Dinge zu erzählen … Hast du am Sonntag Zeit? Ich habe nämlich Angst. Er will unbedingt zu dem Turm, um sich den Wald von oben anzusehen. Aber vielleicht tickt er wieder aus. Oder etwas ganz anderes passiert.«
»Wie? Mit wem redest du?«
Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Nils.
»Mit Gunnar Holzen«, sagte Svenja. »Assistenzarzt in der HNO drüben.«
Nils sah sich um. »Er ist … nicht da.«
»Das«, sagte Svenja mit einem leisen Seufzen, »ist mir auch schon aufgefallen.«
Sie stieg aufs Fahrrad und fuhr los – und spürte, wie Nils ihr kopfschüttelnd nachsah. Ein wenig weiter unten, auf Höhe der Kinderklinik, saß Friedel auf seinem Rad, mitten auf dem Radweg, einen Fuß am Boden, und telefonierte. Als Svenja neben ihm hielt, steckte er das Telefon ein.
»Und? Alles okay?«
Sie dachte daran, womit sie sich eben beschäftigt hatten – die tieferen
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