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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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auf dem Eis geschehen: Zuerst ist da das Knacken, dann der Riss, dann die Panik, dann keine Zeit mehr. Nashville bemerkte das Geräusch, er schwang sich in einer verzweifelten, akrobatenreifen Bewegung nach oben, ehe der Ast ganz brach – bekam mit einer Hand einen anderen Ast zu fassen – und wurde von seinem eigenen Schwung hinuntergerissen.
    Er fiel in Etappen, um sich greifend, noch immer auf der Suche nach Halt, riss einen Regen aus Blättern und Rinde mit sich, eine Lawine aus verlorenem Gleichgewicht. Svenja schlug eine Hand vor den Mund und stand ganz still. Es war Friedel, der vorwärtssprang.
    Nashville fiel in seine Arme. Er riss auch Friedel mit, und sie landeten gemeinsam auf dem harten Boden. Svenja war mit einem Satz bei ihnen, kniete neben ihnen, unsicher, was zu sagen oder zu tun war. Einen Krankenwagen rufen? Weinen? Schreien? Lachen?
    Sie wollte den kleinen Körper in ihre Arme ziehen. Doch er entschlüpfte ihr, stand alleine auf und spuckte einen Mund voll Blut und Erde aus. Eine breite, tiefe Schramme zog sich über seine Wange. Ein Schmiss der anderen Art. Auch die Haut an seinen Armen war von den scharfen Krallen der Äste aufgebrochen worden, das Hemd zerrissen. Er schüttelte sich wie ein Hund. Dann reichte er Friedel eine blutige Hand und half ihm hoch.
    »Da war was«, sagte er. »Ich hab es nicht richtig gesehen, weil ich dann gefallen bin, aber es war da. Kommt. Ich zeig es euch.«
    Zum ersten Mal hatte er nicht nur zu Svenja gesprochen, sondern zu ihnen beiden.
     
    Er führte sie vom Spielplatz weg, nach Nordosten. Er spuckte noch ein paarmal Blut aus, er musste sich beim Aufkommen auf die Zunge oder die Wange gebissen haben. Aber er humpelte nicht. Er bewegte sich nicht nur wie eine Katze, dachte Svenja. Er hatte auch sieben Leben. Sie fragte sich, wie viele er schon verbraucht hatte.
    Friedel nahm ihre Hand, oder sie seine.
    Wohin führte Nashville sie? Was hatte er von da oben aus gesehen? Der Weg war hübsch, ein Spazierweg durch ein kleines, freundliches Stück Wald, anders als der Wald am Steilhang. Zur Rechten lagen die Zäune von kleinen Gärten.
    Aber die Begleitmusik war dunkel und dissonant. Nashville bewegte sich sehr zielstrebig.
    Was würde er ihnen zeigen?
    Irgendwo hier zwischen den hübschen Blumen und den Gärten, dachte Svenja, lag im Unterholz etwas, das sie nicht sehen wollte. Gab es dort, hinter einem der Gartenzäune, einen weiteren, stillen Körper? Einen weiteren Säbelschnitt durch die Realität?
    Nashville blieb vor einem leicht abschüssigen Garten stehen, in dem das Gras so hoch stand, dass man nicht sehen konnte, was sich darin befand. Die alten Äste rosa und weiß blühender Apfelbäume winkten mit unschuldig grünen Blättern. Das kleine Tor im Zaun war nur angelehnt. Im hohen Gras summten Bienen. Ein Stück abseits stand ein windschiefer, kleiner Bretterschuppen, in dem unbekannte Schatten wohnten. Der Himmel war blau. Es roch nach Sommer. Doch die Musik war noch immer die eines Thrillers; da war ein unbehagliches Klopfen im Hintergrund wie von einem zu rasch schlagenden Herzen.
    Nashville führte sie direkt auf den Schuppen zu. Davor lagen drei umgefallene alte Liegestühle und ein Tisch, halb verrottet. Die Tür hing schief in den Angeln, Moospolster wuchsen auf den hölzernen Schindeln.
    »Hier«, sagte Nashville.
    »Was?«, flüsterte Svenja. »Was willst du uns zeigen?«
    »Nicht noch eine Leiche, bitte«, sagte Friedel mit einem etwas unechten Lachen.
    »Nein.« Nashville sah ernst von einem zum anderen. Dann pflückte er einen Grashalm und drehte ihn zwischen den Händen. »Das Paradies. Die perfekte Stelle zum Picknicken. Ihr wolltet doch ein Picknick machen?«
     
    Und sie machten ein Picknick.
    Auch dieser Garten war voller Akeleien, voller leise auf ihren Stängeln wippenden violetten und rosa Schnabelblüten. Dazwischen krähte gelb der Hahnenfuß, und das Gras reckte sich hoch zum Himmel wie ein winziger Urwald ohne Uhren, zeitlos, fern der Zivilisation.
    Sie stellten die Liegestühle auf, und Nashville half Svenja, Butterbrote und Äpfel auf den Tisch zu legen. Er platzierte die Saftflasche genau in der Mitte und ordnete die Würstchen in einem schönen Kreis darum herum an, und als sie aßen, aßen sie schweigend, als wäre es eine heilige Handlung. Svenja dachte an den Tag, an dem sie mit Friedels Drachen auf den Roßwiesen gewesen waren, gar nicht weit von hier. Damals hatte sie noch nichts von Sirja gewusst, und ihr Lachen war

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