Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
anders gewesen. Lauter.
»Ich hab übrigens einen neuen Job«, sagte Friedel. »Bedienen im
Neckarmüller
. Dieser Biergarten an der Brücke. Bierflaschen gehören immerhin zu den Dingen, mit denen ich umgehen kann.«
»Wunderbar«, sagte Svenja. An diesem Nachmittag, in diesem Garten, schien alles wunderbar.
Die Erde roch nach unbekannten Freiheiten. Hier, dachte Svenja, könnte man bleiben und jemand anders werden.
Irgendwann standen sie auf und erforschten alle Winkel des Gartens, sie pflückten verwilderte Erdbeeren und bauten ein Indianerhaus aus alten Zweigen, die sie gegen den größten Apfelbaum lehnten. Friedel zeigte ihnen, wie man es machte. Als ihr Zelthaus fertig war, kroch Nashville hinein und rollte sich dort im Schatten zusammen. »Hier bleiben wir, ja?«, sagte er. Dann schloss er die Augen und schlief ein.
Friedel und Svenja spielten in der Buchenhecke Verstecken. Es war sehr albern. Es war gerade richtig. Schließlich fielen sie lachend ins Gras und ließen die Blumen über ihren Köpfen wippen.
»Wenn wir wirklich für immer hierbleiben könnten«, flüsterte Svenja, »dann könnte nichts passieren. Niemand könnte Nashville finden, und Nashville könnte niemanden finden. Er sucht, glaube ich. Er sucht den Mörder seiner Mutter.«
»Besser, er findet ihn nicht«, sagte Friedel. »Besser für Nashville. Von mir aus bleiben wir. Wir leben von Äpfeln und Birnen. Man kann sogar Schnaps daraus machen. Und im Winter stricken wir uns Pullover aus Baumrinde.« Er nickte zufrieden. »Und Katleen und Nils kommen auch nie vorbei.«
»Bist du immer noch sauer, dass ich Nils geküsst habe? Er ist nur mein Präp-Tutor. Und Küssen ist unwichtig.«
»Finde ich nicht«, sagte Friedel und küsste sie.
Der Kuss wurde länger als geplant. Als er endete, stand Nashville neben ihnen. Und am Himmel hingen schwere graue Regenwolken. Friedel ließ Svenja los. »Ich … sammle besser unsere Sachen ein«, sagte er.
Aber Svenja blieb noch einen Moment lang zwischen den Blumen liegen. Vor den grauen Himmel schob sich Nashvilles Gesicht. Sein Blick war so ernst wie immer.
»Küsst du mich auch mal?«, fragte er.
»Bitte?« Svenja streckte eine Hand aus, um ihm durch die Haare zu wuscheln. »Du bist höchstens zehn.«
»Ich bin dreizehn! Ich bin nur klein für mein Alter.« Er zögerte und strich dann ganz vorsichtig mit dem Zeigefinger über ihre Lippen. »Ist es schön, jemanden zu küssen?«, flüsterte er.
»Doch, schon«, sagte Svenja. »Aber du bist wirklich zu jung. Wärst du auch mit dreizehn.«
Die ersten Regentropfen fielen, als sie aufstanden. Svenja fing einen auf ihrer Hand wie ein kleines Tier.
»Ade, Paradiesgarten«, flüsterte sie. »Es ist sowieso Abend, ich brate zu Hause Spiegeleier. Und ich muss noch was für die Uni tun.«
Nashville nahm zwei Schritte Anlauf und machte einen perfekten Handstand gegen die Schuppenwand, auf der noch die Sonnenwärme des Paradiestages lag. Er sah sie auf seine umgekehrte Weise an und holte tief Luft, als wollte er ihr etwas sagen. Etwas Wichtiges.
Er sagte es nicht.
Friedel wartete schon am Zaun auf sie, den Picknickkorb in der Hand. Der Regen fiel jetzt in stetigen Fäden und wusch die Farben des Paradieses fort. Ein Motorengeräusch dröhnte auf der anderen Seite des Schuppens. Und da sah Svenja, dass dort ein Haus stand, ein Haus samt Garage. Auch der Paradiesgarten war nicht wild, er gehörte jemandem, selbst wenn dieser Jemand ihn nicht benutzte. Alles gehörte immer jemandem.
Vielleicht war es besser, Nashville im Glauben zu lassen, es wäre nicht so.
»Komm«, sagte Svenja. »Wir rennen.«
Es war weit bis zu den Rädern. Sie waren klitschnass, als sie ankamen.
Diesmal nahm Friedel Nashville auf seinen Gepäckträger. So fuhren sie den Berg hinunter durch den Regen, und die Tropfen waren lauter Tränen über das verlorene Paradies, in dem sie nicht hatten bleiben können. Seltsam, dachte Svenja. Sie hatten solche Angst gehabt, er würde ihnen dort etwas Schreckliches zeigen. Sie gingen immer davon aus, dass er nur an schreckliche Dinge dachte. Dabei war er ein Kind, das Indianerhäuser bauen und picknicken wollte und sonst vielleicht gar nichts.
Nur ein Kind.
Sie dachte an das Gesicht, das im Paradiesgarten den grauen Wolkenhimmel verdeckt hatte, ein Kindergesicht voller Baumschrammen.
Küsst du mich auch mal?
Svenja lächelte. Mit neun oder zehn hätte sie Ja gesagt. Wenn sie ein Kind gewesen wäre.
Nur ein Kind.
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