Nasses Grab
Rauschen des Wasserkessels die Stille im Raum.
Anna Navrátilová nahm auf dem Stuhl vor Magdas Schreibtisch Platz. Milena drehte sich zu ihr um. Magda sah ihre Großmutter erwartungsvoll an.
Anna zwinkerte ihrer Enkelin liebevoll zu. Dann wandte sie sich an ihre Tochter.
»Ich kann nicht mehr, Liebes«, sagte sie. »Ich bin alt. Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe …«
»Aber Mama«, fiel Milena ihr ins Wort, »was soll denn das? Du bist gesund, du …«
»Diese Sache hat mich sehr mitgenommen«, unterbrach Anna sie. »Ich will reinen Tisch machen, Milena. Ich kann nicht sterben mit diesen Lügen auf meinem Gewissen. Ich will es vom Tisch haben.« Ihre Worte ließen keinen Raum für Widerspruch. Anna und ihre Tochter sahen sich lange an. Ein wortloser Kampf zweier willensstarker Frauen. Schließlich senkte Milena den Blick.
»Wenn du meinst, dass es das Richtige ist …«, sagte sie leise. »Ich …«
Magda beobachtete die beiden mit wachsender Verwunderung. Worum ging es hier? Was für Lügen?
»Ich weiß, dass du die Sache anders siehst, mein Herz. Ich verstehe dich, glaub mir. Aber ich weiß, dass ich recht habe. Es muss sein. Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Sie ist alt genug.«
» Babi , wovon sprichst du eigentlich?«, fragte Magda verständnislos. »Was für Lügen? Wer hat ein Recht darauf, etwas zu erfahren?« Hatte es mit diesem verzwickten Fall zu tun? Hatte es mit Dana zu tun, mit ihrer Tante, die sie, ohne es zu wissen, nur so kurz kennengelernt hatte? Alena Freeman, alias Dana Volná, alias Dana Navrátilová. Sie war ihr sympathisch gewesen. Hätte sie doch nur gewusst, wer Alena wirklich gewesen war – sie hätte sie so vieles fragen wollen. Eine Frage trieb sie unterschwellig die ganze Zeit um, seit sie festgestellt hatten, wer Alena wirklich gewesen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach gewesen war, berichtigte sie sich. Hatte Alena sie, Magda, als ihre Nichte erkannt? Wenn ja – warum hatte sie nichts gesagt? Magda wusste, dass sie ihrer Mutter sehr ähnlich sah. Hatte Alena geahnt, wer sie war? Zu spät.
»Ich möchte dir etwas erzählen, mein Kätzchen«, sagte ihre Großmutter. Kätzchen, der Kosename, den ihre Großmutter immer benutzt hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war.
»Ich weiß, dass ich Schmerz verursachen werde«, fuhr Anna unbeirrt fort, »aber es muss sein. Du hast es nicht verdient, dein ganzes Leben lang belogen zu werden. Man sollte wissen, wer man ist.«
Wer man ist?, dachte Magda verständnislos. Sie setzte an, um zu sprechen, aber ihre Großmutter ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Lass mich bitte erst erzählen, solange ich noch den Mut dazu habe. Ich habe mich in mancher Hinsicht schuldig gemacht. Vieles kann ich nicht wiedergutmachen … Dana … manches war meine Schuld. Vielleicht war ich zu hart. Aber ich glaube, Dana wäre es im Grunde lieber gewesen, sie wäre ohne Familie auf die Welt gekommen. Wir waren immer nur Ballast für sie, schon seit sie ein kleines Mädchen war. Sie hat uns bei erster Gelegenheit abgeschüttelt. Ich denke, ich habe es ihr mit meinem Verhalten nur erleichtert. Gegangen wäre sie so oder so.« Anna wandte sich an ihre Tochter. »Du hattest damit recht. Dana wollte alleine sein auf der Welt.«
Milena nickte. »Das habe ich dir doch immer gesagt. Du brauchtest keine Schuldgefühle zu haben, Mama.«
Anna sprach weiter, als habe ihre Tochter nichts gesagt.
»Ich mache mir Vorwürfe, dass ich euch diese verrückte Idee damals habe durchgehen lassen. Ich hätte von Anfang an auf der Wahrheit bestehen sollen. Dana war eine verantwortungslose Egoistin. Und du, Milena, hast das einzig Richtige getan – aus Liebe zu dem unschuldigen Kind und auch aus Liebe zu deiner Schwester. Aber es war eine Lüge, und Lügen sind nicht gut. Also, mein Liebes«, wandte sich Anna nun wieder an Magda, »hör mir gut zu. Und vergiss nicht, dass wir alles, was wir – deine Mutter und ich – getan haben, aus Liebe zu dir taten …«
Während ihre Großmutter von ihren beiden ungleichen Töchtern zu sprechen begann, stieg eine Ahnung in Magda auf. Sie hörte gebannt der sanften Stimme der alten Frau zu, die von Ereignissen berichtete, die Magdas Leben auf einen Schlag veränderten.
Als ihre Großmutter schließlich geendet hatte, schwirrte Magda der Kopf. Sie war sprachlos. Wusste nicht, ob sie entsetzt sein sollte oder – oder was? Wütend? Traurig? Sprachlos? Zutiefst erschüttert? Sie sah von ihrer
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