Nasses Grab
abgesoffen bei diesem verdammten Hochwasser. Unzählige Friedhöfe, das eine oder andere Krankenhaus, die eine oder andere Leichenhalle waren entlang der Moldau zerstört oder beschädigt worden. Und dieser Fluss war lang, schlängelte sich vierhundertvierzig Kilometer lang auf seinem Weg in den Norden durch das ganze Land, von seinem Ursprung am Fuß der Šumava, den Bergen des Böhmerwalds im Grenzgebiet zu Österreich, durch Prag bis nach Mělník im Norden, wo er sich mit der kleineren Elbe vereinigte, um über die Grenze nach Deutschland weiterzufließen, Richtung Nordsee.
Eigentlich müsste Hamburg an der Moldau liegen, schweifte Anděl amüsiert ab. Seit seiner Schulzeit, als ihnen der Erdkundelehrer von den Regeln zur Benennung von Flüssen erzählt hatte, fragte er sich, wie es wohl gekommen war, dass in diesem Fall regelwidrig vorgegangen worden war. Normalerweise, hatte sein Lehrer den staunenden Schülern erklärt, wird der Strom, der aus der Verbindung zweier Flüsse entsteht, nach dem größeren der beiden benannt. Die Moldau war größer, länger und führte mehr Wasser als die Elbe. Trotzdem hieß das Ergebnis der Vereinigung in seinem weiteren Verlauf nicht Moldau, sondern Elbe. Eines von vielen Rätseln, dachte Anděl.
Und nun hatten sie dieses Bein am Hals. Er legte den Bericht zur Seite und sah auf seine Uhr. Sein Magen knurrte. Zeit, zum Mittagessen zu gehen. Am späten Nachmittag würde er Jirka anrufen und nach den Ergebnissen der Obduktion fragen. Er stand auf und verließ das Büro.
Draußen schlug ihm die Hitze des Tages entgegen. Es mussten über dreißig Grad sein. Und es war erst Mittag. Der Asphalt auf dem Bürgersteig vor dem Polizeipräsidium war weich von der Glut der Sonne. Anděl dachte an Magdas hohe Sandalen. Wie sie es wohl schaffte, nicht in dieser zähen Masse kleben zu bleiben? Aber dann fiel ihm ein, dass das Gerichtsmedizinische Institut ja in den Weinbergen lag und man dort den hässlichen Asphalt aus sozialistischen Zeiten inzwischen durch die früher üblichen kleinen weißen und grauen Pflastersteine ersetzt hatte. Vom Regen in die Traufe, dachte er und lächelte. Wie oft kam Meda morgens ins Büro und schimpfte, weil ihre Absätze auf dem Weg zur Arbeit mehrfach zwischen den Pflastersteinen stecken geblieben waren. Entweder war dabei die Absatzsohle abgerissen oder das Leder auf den Absätzen hing in Fetzen herunter. Die Stadtverwaltung und die Schuster, ereiferte sie sich mehrmals die Woche, steckten mit Sicherheit unter einer Decke. Vielleicht, sinnierte er, war Schuster ein gewinnträchtiger Beruf in Prag. So beliebt wie hohe Absätze bei den Pragerinnen waren, musste er eine wahre Goldgrube sein.
Anděl schlug den Weg in die Altstadt ein, ließ seine Gedanken schweifen. Er freute sich auf den Abend. Lächelnd dachte er an den großen Vorlesungssaal, in dem er jungen Studenten vom Zauber der Mathematik erzählen würde. Er liebte diese Vorträge. Aber inzwischen war er zu sehr Polizist, um sich noch ausschließlich seiner früheren Leidenschaft widmen zu wollen. Warum sich auch entscheiden? Zu Hause wartete niemand auf ihn, keine Ehefrau, keine Kinder, nicht einmal eine Freundin. Er genoss dieses freie Dasein. Meistens jedenfalls. Er könnte die Pathologin auf einen Kaffee einladen. Sie war mehr nach seinem Geschmack als die paar kurzen Affären, die er gelegentlich hatte. Aber so eine Frau war mit Sicherheit längst vergeben. Sein Handy klingelte.
» Ahoj , David«, klang Medas Stimme aus dem Apparat, »du wolltest doch vorhin wissen, wo die Volná ursprünglich herkam.«
»Ja – äh – ach so, ja«, sagte er etwas verwirrt, da sie ihn so unvermittelt aus seinen Gedanken gerissen hatte.
»Sie ist in Franzensbad geboren.« Meda lachte. »Hätte nicht gedacht, dass sie so ein Landei war. Bis später.« Sie legte auf.
Er steckte langsam sein Handy ein. Franzensbad. Was für ein Zufall. Dana Volná stammte aus seiner Heimatstadt.
Und dieser Ort war klein, knappe fünftausend Einwohner, jeder kannte dort jeden. Die Kurgäste kamen und gingen, und die Bewohner blieben unter sich. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Bevölkerung vertrieben worden war, waren aus dem ganzen Land Menschen dorthin gezogen – manche freiwillig, manche zwangsweise. Es hatte billigen Wohnraum im Überfluss gegeben. Aber in den folgenden Jahrzehnten wollte kaum mehr jemand freiwillig in das Grenzgebiet an der deutschen Grenze ziehen. So weit weg von der alles überragenden
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