Nasses Grab
Terrasse.
»Guten Tag, Herr Milan. Mein Chef ist hier?«, fragte Larissa verwundert.
»Aber ja, schon den halben Morgen.«
»Was für ein Zufall. Danke, Herr Milan. Aber ich bin nur gekommen, um ein bisschen die schöne Terrasse zu genießen. Sagen Sie ihm bitte nichts, ich möchte nicht stören.« Sie bestellte einen Eiskaffee und ein Glas Wasser.
Larissa trat nach draußen und sah sich um. Die Terrasse war in mehreren Ebenen gestaltet, sie selbst befand sich auf der untersten. Auf der oberen saß tatsächlich ihr Chef – mit einer Frau in einem bunten Sommerkleid. Obwohl die Frau mit dem Rücken zu ihr saß, erkannte Larissa sie sofort. Sie dachte sich nichts dabei. Die beiden waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Larissa setzte sich an einen Tisch schräg unterhalb der beiden. Ich sollte sie nicht belauschen, dachte sie. Trotzdem blieb sie sitzen. Curiosity killed the cat . Wer hatte das erst kürzlich zu ihr gesagt? Richtig, David Anděl, als sie zusammen das Ráj verlassen hatten. Na, von Lauschen kann keine Rede sein, dachte sie. Die beiden sprachen sehr leise, und nur ab und zu wehte ein Wortfetzen zu ihr herab.
Larissa holte ihr Notizbuch heraus und blätterte durch ihre Aufzeichnungen. Sie arbeitete an der Fortsetzung ihres Mumien-Artikels. Sie musste ihn heute zu Ende schreiben und abgeben. Es fehlte auch nicht mehr viel. Nur der Schluss. Und ein Absatz für Steve, den Nachrichtenredakteur, den er dann beim Redigieren streichen konnte. Ein Redakteur, der in einem Artikel nichts strich, war keiner. So viel hatte sie schon gelernt, trotz der kurzen Zeit, die sie als Journalistin arbeitete. Anfangs hatte sie diese Marotte der Redakteure irritiert. Immer war etwas weggefallen, das sie für wichtig erachtet hatte. Bis ihr ein erfahrener Kollege geraten hatte, immer einen Absatz einzufügen, der offensichtlich nach Streichung schrie.
»Dann ist der Redakteur glücklich, weil er streichen kann, und du bist zufrieden, weil alles Wichtige drin bleibt«, hatte er augenzwinkernd gesagt. Seit sie diesen Ratschlag beherzigte, waren in der Tat alle glücklich. Wie wenig es brauchte, um alle zufriedenzustellen, dachte sie. Das Gespräch über ihr wurde lauter. Larissa stutzte und sah nach oben.
» Ježúšmaria, Honzo, nebud’ takový cvok !«, klang die ihr wohlbekannte helle Stimme im perfekten Prager Idiom zu ihr hinunter – Jesusmaria, Honza, sei kein solcher Schwachkopf . Interessant, dachte Larissa, was manche Leute darunter verstanden, wenn sie sagten: »Ich spreche höchstens ein paar Brocken Tschechisch.« Und nun kam aus dem Mund dieser Frau die Landessprache perfekt und akzentfrei. Sie hatte doch erzählt, dass sie als Kleinkind mit ihren Eltern in die USA gekommen war, dachte Larissa. Deshalb spreche sie auch kaum Tschechisch. Ihre Eltern hätten nicht darauf geachtet, dass sie es lerne. Nun, das war offensichtlich eine Lüge. Vermutlich hatte sie ihre Gründe. Larissa schmunzelte.
Aber wenn sie Tschechisch mit Larissas Chef sprach, dann bedeutete das doch, dass er sie verstand. Und das war nun in der Tat sehr merkwürdig. Alle bei der Post wussten, dass der stellvertretende Chefredakteur sich kaum ein Bier auf Tschechisch bestellen konnte. Er habe das nicht nötig, hatte er einmal gesagt, seine Frau übersetze für ihn, die sei ja schließlich Tschechin.
» Ty jsi blázen, radši jim to řekni stejn ě na to přijdou ! « Du bist verrückt, sag es ihnen lieber – die kommen eh drauf !
Oha, er konnte Tschechisch. Perfekt und akzentfrei. Ob seine Frau das wusste? Vielleicht war er ja besser darin, seine Talente zu verschweigen, als seine Affären zu verheimlichen. Und was in aller Welt würde wer herausfinden? Wovon sprachen die beiden? Was hatte die Frau zu verbergen? Fragen über Fragen. Aber da war noch etwas, das sie eben irritiert hatte. Honza . Sie hatte ihn Honza genannt. Dabei hieß er Jean. Larissa schwirrte der Kopf. Gott sei Dank habe ich den Sonnenhut auf, dachte sie, sonst würde ich denken, ich hätte einen Sonnenstich.
Er heißt Jean, überlegte sie, genannt wird er Jay. Aber wieso nennt sie ihn Honza? Schön, sie sprachen Tschechisch miteinander, aber das war noch kein Grund, auch gleich den Vornamen zu übersetzen – außer … Honza, die Koseform von Jan. Nahezu jeder Jan wurde in Tschechien Honza genannt. Was, wenn … nein, ihre Fantasie ging schon wieder mit ihr durch. Aber andererseits, angenommen … Jan ist auf Französisch Jean. Eine Alarmglocke schrillte in ihrem
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