Nasses Grab
Hauptstadt, so nah an einer unüberwindbaren Grenze. Er selbst war nach dem Abitur auch nach Prag gegangen. Wohin sonst? Bloß weg aus der Provinz.
Seine Eltern jedoch lebten noch immer dort. Seine Mutter war Pharmazeutin und hatte nach der Revolution eine Apotheke aufgemacht, und sein Vater war Chefarzt in einem der inzwischen renovierten Kurhäuser geworden. Es gab kaum jemanden, den die beiden nicht kannten in Franzensbad. Und seine Mutter hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
Anděl holte sein Handy aus der Brusttasche seines Leinenjacketts und wählte die Nummer seiner Mutter. » Ahoj , Mamino «, sagte er, als sie sich meldete, »ich bin’s, David.«
» Ahoj , David! Was für eine Freude! Wie geht es dir, mein Junge?«
»Gut, hör mal, ich habe eine Frage. Kannst du dich an eine Frau namens Anna Navrátilová erinnern? Sie muss bis Mitte der Sechzigerjahre bei euch gelebt haben. Sie hatte zwei Töchter, Zwillinge.«
»Hm, lass mich nachdenken … Anna Navrátilová? – Aber natürlich, sie war Gynäkologin im Krankenhaus in Eger, nicht? Eine sympathische Frau. Warum fragst du?«
Anděl lachte. Wie klein doch die Welt war. »Oh, nichts weiter«, sagte er beiläufig, »ich arbeite mit ihrer Enkelin an einem Fall. Sie ist Gerichtsmedizinerin.«
»In der Gerichtsmedizin? Du kennst Magda? Wie schön.«
»Du kennst sie?«, fragte er verblüfft. Das Gedächtnis seiner Mutter war wirklich phänomenal – aber nun war sie offenbar auch unter die Hellseher gegangen.
»Nicht persönlich, aber Milena Axamit – das ist Magdas Mutter, die Tochter von Anna Navrátilová – und ich, wir schreiben uns alle Jubeljahre mal. Du weißt schon, zu Weihnachten und zum Geburtstag. Sie hat ab und zu Fotos der Mädchen geschickt. Ja, ich erinnere mich, dass sie mir geschrieben hat, die Große sei in ihre Fußstapfen getreten. Milena ist auch forensische Pathologin. Außerdem kommt Valeska, die jüngere Tochter, ab und zu in meine bescheidene Apotheke. Ich habe mit Milena in Prag studiert, weißt du. Ein liebes Mädchen. Ganz anders als ihre Schwester.« Marie Andělová seufzte.
»Kanntest du die Schwester, Mamino ?« Anděl überquerte die Straße, ließ sich an einem Tisch vor einem kleinen Café nieder und streckte das Gesicht der Sonne entgegen.
»Und ob! Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Das Mädel war bekannt wie ein bunter Hund. Ein echter Wildfang. Sie ist mit fünfzehn nach Prag gegangen, aufs Konservatorium, wollte auf Biegen und Brechen Schauspielerin werden.«
»Hast du sie später noch mal gesehen?«
»Sie kam in den Ferien nur sehr selten nach Hause. Und nach dieser Sache beim Kanufahren kam sie gar nicht mehr. Das heißt – doch, einmal habe ich sie noch gesehen. Sie war mit Milena hier. Geht es um die Geschichte im Krankenhaus? Na, ist wohl beides inzwischen egal, sie ist ja seit Jahren tot.«
Im Hintergrund hörte Anděl jemanden nach seiner Mutter rufen. »Hör mal, David, ich muss Schluss machen, im Laden steht ein ganzer Bus Touristen und plündert schon meine Auslagen. War schön, von dir zu hören, mein Junge, und wenn du mal wieder vorbeikommst, bring doch Magda mit! Bis bald!«
»Warte, Mamino ! Was für eine Geschichte …«
Sie hatte aufgelegt.
Larissa überquerte zielstrebig den Altstädter Ring. Vor dem Orloj, der alten astronomischen Uhr am Rathausturm, standen Hunderte von Touristen und warteten auf das beliebte Schauspiel. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Kurz vor elf. Gleich würden die Glocken zu schlagen beginnen, dann würden die beiden Türchen oberhalb der Uhr aufgehen und die Prozession der zwölf Apostel beginnen. Schließlich würde der Hahn krähen, das Skelett die Sanduhr drehen und das Glöckchen schlagen, um allen in Erinnerung zu rufen, dass sie sterblich waren. Die Touristen quittierten jede Vorstellung mit Applaus, die Mahnung des Sensenmannes in den Wind schlagend. Wer wollte schon ausgerechnet im Urlaub an seine eigene Sterblichkeit erinnert werden?
Larissa schlängelte sich durch die wartenden Menschenmassen und bog zum Restaurant Prinz ab, gerade als die Glocken zum stündlichen Schauspiel riefen. Sie ging durch den Schankraum zum Aufzug und drückte den Knopf. Oben angekommen wurde sie von dem Kellner begrüßt, der meist hier oben Dienst tat.
»Guten Tag, Frau Redakteurin«, sagte er lächelnd. »Ihr Chef ist schon da, aber Sie werden einen Moment warten müssen, eine Dame hat sich vorhin zu ihm gesetzt«, fügte er hinzu und deutete hinaus auf die
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