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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nun schon so lange drin – und nichts rührte sich.
    Vitali Jakowlewitsch Gasisulin, der Sargmacher, war in dieser Zeit dreimal vorbeigekommen. »Gibt es schon den vierten Toten? Brüder, meldet es mir sofort! Ich bin einmal an der Arbeit – ein paar Bretterchen mehr gehobelt, das macht mir nichts aus!«
    Aber man konnte Gasisulin nichts Neues berichten. »Es ist alles still, geheimnisvoll still!« sagte Tigran nur. »Vielleicht hat der Schreck Michail Sofronowitsch getötet. Wer weiß es? Wir werden es nie erfahren, wenn er im Haus bleibt. Oder will einer von euch hinein?«
    »Das müßte man überdenken, Genossen!« sagte Petrow, der Dorfsowjet, und schielte den Popen so schauerlich an, daß dieser versucht war, ihm einen Sondersegen zu spenden. »Wir sind alle nur arme, kleine schutzlose Wesen! Hinter uns steht Lenin … Aber nirgendwo hat auch er geschrieben, daß man sich mit dem Satan auseinandersetzen muß. Mit den verdammten Kapitalisten – das ist selbstverständlich! Aber mit der Kirche …«
    »Jakow Michailowitsch!« rief Tigran drohend.
    Petrow hob die Hände. »Lassen Sie mich ausreden, Tigran Rassulowitsch! Mit der Kirche sollte man kritisch sein, und das bin ich! Wenn hier jemand das Haus betreten kann, dann nur Sie, Väterchen, im Schutze des Kreuzes! Höchstens käme Jefim noch in Frage …«
    »Laßt mich in Ruhe!« jammerte der Idiot und hielt sich an Anastasias Schürze fest. »Warum ich, he? Warum ich? Laßt Gerechtigkeit walten, Genossen!«
    »Ein Idiot ist ein Liebling des Höchsten!« sagte Tigran weise. »Petrow hat recht. Um einen Idioten schwebt die Aura des Ewigen …«
    Es wußte zwar keiner, was eine Aura ist, aber wenn der Pope es sagte, mußte es etwas ganz Herrliches sein.
    »Wir werden auslosen müssen, wer ins Haus geht!« sagte Tigran, nachdem kein Widerspruch mehr laut geworden war. »So lange kann niemand, wenn er noch lebt, im Haus bleiben, ohne sich zu rühren. Nichts tut sich da, gar nichts! Der unbelehrbare Michail Sofronowitsch liegt bestimmt mit umgedrehtem Genick vor dem Ofen. Soll er dort hundert Jahre liegenbleiben? Brüder, einer von uns muß wenigstens einmal durch das Fenster ins Haus blicken! Das losen wir jetzt aus!«
    Es war zum Jammern – man kam zu nichts. Zwar verlor ausgerechnet der Dorfsowjet die Auslosung – er tippte auf die falsche Hand Tigrans, auf die linke, während der Kieselstein in der rechten lag. Petrow schrie sofort, das verstoße gegen sein Amt – er sei für den Kommunismus zuständig und nicht für Geister und ihre Untaten. Außerdem hätten Auslosungen dieser Art keine Gültigkeit, denn die Partei habe ja das Glücksspiel verboten!
    In diesem Augenblick flog die Tür des verfluchten Hauses auf, und Tassburg kam heraus. Er schwankte, und das blonde Haar hing ihm in die Stirn. Sein Hemd war über der Brust bis zum Gürtel der Hose aufgerissen. Erschöpft lehnte er sich gegen die Hauswand und wischte sich über das Gesicht.
    »Er lebt …«, flüsterte Petrow glücklich.
    »Mutter Gottes, er steht da und atmet!« sagte Anastasia und bekreuzigte sich.
    »Aber wie steht er da!« brummte Tigran. »Wie geht er? Wie atmet er? Gezeichnet ist er! Weiß einer von euch noch, wie der Genosse Ingenieur gestern aussah? Und heute? Ein Jammerbild! Wartet es ab, gleich bricht er zusammen und haucht sein Leben aus! Dazu muß er ja vor die Tür – seit hundertfünfzig Jahren ist noch jeder vor dem Haus gestorben!« Tigran stand auf, breitete die Arme weit aus und holte tief Luft. »Gott nimmt dich auf!« rief er Tassburg zu. »Habe keine Angst vor dem Paradies, mein Sohn! Die ewige Sonne …«
    »Ich brauche etwas gegen Fieber!« unterbrach ihn Tassburg. »Gegen ein Nervenfieber! Wo ist hier der nächste Arzt?«
    Das war nun eine Frage, die man in Satowka selten stellte, denn hier war kaum jemand krank. Man lebte, bis man umfiel. Und wer endlich umfiel, der brauchte meistens keinen Arzt mehr. So einfach war das Leben in der Taiga … Ein Arzt hätte die gleichen Probleme wie der Sargmacher Gasisulin gehabt – er wäre verkümmert.
    Natürlich gab es einen Arzt, man war ja schließlich ein fortschrittliches Land! Aber der Arzt hatte seine Praxis in der Kleinstadt Batkit, und wer ins Krankenhaus mußte, wurde nach Mutorej transportiert. Hatte er das Unglück, dort noch lebend anzukommen, dann begann erst sein Leiden: Das Krankenhaus hatte dreißig Betten, die Gebäude stammten noch aus der Zarenzeit, und der Chefarzt war eine dicke Frau, deren Alter niemand

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