Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
und schläft, und keiner kümmert sich um sie, so, als wäre sie gar nicht vorhanden …
Sind die Geheimnisse dieses Hauses zur Wahrheit geworden?
In diesem Augenblick bewegte sich Natalia. Sie öffnete langsam die Augen, sah Tassburg über sich gebeugt und lächelte.
»O Michail, du bist hier?« fragte sie leise. »Ich wußte, daß ich dich treffen würde. Wie schön … nun sind wir für immer zusammen …«
»Immer, Natalia, immer«, sagte er. Er konnte kaum sprechen, seine Stimme zitterte.
»Wo sind wir?« fragte sie. »Auf einer Wolke? Ach, Michail, es ist so schön, tot zu sein …«
Er umfaßte sie, riß sie an sich und küßte sie. »Du lebst, Natalia!« rief er und schüttelte sie. »Du lebst! Wach auf! Wir beide leben!« Sie hing in seinen Armen, hatte die Augen geschlossen und schüttelte den Kopf, während er sie immer wieder küßte.
»Du lügst«, sagte sie mit einer fast kindlichen Stimme. »Darf man im Himmel lügen, Michail? Ich habe Kassugai erstochen, in den Hals gestochen, verblutet ist er … mein Liebling, aber Gott hat mir verziehen, nicht wahr? Er hat dich zu mir gelassen …«
Entsetzen fuhr eiskalt über Tassburgs Rücken. Er schüttelte Natalia wieder, umfaßte ihren Kopf, rief ihren Namen immer wieder und starrte sie an. Engelsgleich sah sie aus, aber merkwürdig erstarrt, so, als seien alle Nerven abgestorben. Als sie wieder die Augen öffnete, war ihr Blick glänzend, aber vollkommen leer. Wie aus Glas sind diese Augen, dachte Michail erschüttert, ohne einen Funken Seele oder innerem Leben …
»Natalia …«, stammelte er und drückte sie an sich. »Wach auf … wach auf … wach doch auf! Du bist hier bei mir, in unserem Haus … Natalia!«
Das darf nicht sein, schrie es in Tassburg. Nein, mein Gott, das nicht! Gib ihr ihren Geist wieder, laß sie nicht wahnsinnig werden. Verhindere, mein Gott, daß das Grauen ihr den Verstand genommen hat! Laß sie weiter ein Mensch sein …
Er küßte sie auf den Mund, auf die gläsernen Augen, auf die Stirn, auf den Hals, und wo seine Lippen sie berührten, war sie kalt, von einer entsetzlichen, steinernen Kälte.
Natalia hing in Michails Armen und atmete kaum noch, aber ihr Leib begann plötzlich zu zittern, als sei sie von einem heftigen Krampf ergriffen.
Was soll man tun, wenn man zum Helfen nur seine Hände und ein liebendes Herz besitzt?
Das ist sehr wenig für eine Krankheit wie diese, die Natalia anscheinend durch Kassugais gewaltsamen Tod bekommen hatte. Tassburg erkannte das, als er sie in sein Bett getragen hatte und neben ihr auf der Bettkante hockte. Ab und zu zuckte sie heftig zusammen, und ihr zierlicher Körper verkrampfte sich, dann schnellten die Glieder auseinander, als sei sie ein Fisch, der an Land geworfen war und sich zurück ins lebenerhaltende Wasser windet. Dabei stieß sie ein spitzes, helles Wimmern aus. Tassburg beugte sich wieder über sie und drückte sie fest an sich, aber er fand keinen Zugang mehr zu ihr. Sie bäumte sich auf, und Tassburg hatte Mühe, sie festzuhalten, so gewaltig war die Kraft, die in ihr tobte.
Erst nach Stunden wurde sie etwas ruhiger, lag stumm und bleich auf dem Bett, hielt die Augen geschlossen und atmete gleichmäßiger. Nur das immerwährende leise Zittern blieb, dieses Frieren der Nerven, das unter der Haut lag.
Tassburg kochte Tee und versuchte ihn Natalia einzuflößen. Aber es gelang ihm nicht. Sie preßte die Kiefer zusammen und reagierte auf keinen Anruf. Je mehr Michail versuchte, den Mund wenigstens einen Schlitz breit auseinander zu bringen, um so verkrampfter wurden ihre Gesichtsmuskeln.
Er wusch sie, zuerst mit heißem, dann mit kaltem Wasser, in der Hoffnung, sie erlange dadurch ihr Bewußtsein zurück. Er mußte sie dabei ausziehen und sah zum erstenmal ihren nackten Körper in seiner ganzen vollendeten Schönheit. Aber er empfand nichts dabei; er hatte nur Angst um sie, panische Angst, daß der Nervenschock in ihr blieb, ihren Geist zerstörte oder sie sogar tötete.
Irgendwann, viel später, als sie endlich erschöpft zu schlafen schien, deckte er sie zu und wankte hinüber in den großen Wohnraum, trank einen Schluck Wodka und ging vor das Haus.
Dort warteten, ebenfalls schon seit Stunden, der Pope Tigran, die Witwe Anastasia, Jefim und Jakow Michailewitsch Petrow. Sie starrten auf das verfluchte Haus. Es war ihnen unverständlich, daß darin alles still blieb. Zumindest einen Schrei hatte man erwartet – aber nichts dergleichen! Der Genosse Ingenieur war
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