Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
schätzen konnte. Sie war eine Ärztin, das war klar, und sie schnauzte jeden, der eingeliefert wurde, erst einmal an, damit er einen Begriff davon bekam, daß die Gesundheit erkämpft werden muß.
»Bist du gebadet?« schrie sie etwa. »Ha, diese Füße! Zermalmst du Kohlen damit? Was hast du? Schmerzen im Unterleib? Die Syphilis ist es, du Ferkel! Jammere nicht, ich schneide dir ein Loch in den Bauch!«
So eine war sie! Und nach der verlangte jetzt Michail Sofronowitsch? Das konnte man ihm nicht antun nach allem, was er in Satowka schon erlebt hatte. Und der alte Doktor in Batkit? Um einen Riesenfurunkel des Genossen Lepkinskij zu erkennen, mußte er ein Vergrößerungsglas nehmen, so blind war er schon.
»Der nächste Arzt?« wiederholte Tigran bedenklich. Er wagte sich keinen Schritt an Tassburg heran. Wußte man denn, was mit einem geschah, wenn man ihm zu nahe kam? Daß er krank war, sah jeder, und woher die Krankheit kam, wußte man auch. Da konnte kein Arzt helfen, auch nicht die grobe Genossin Ärztin. »Vertrau auf Gott, mein Sohn! Das ist besser als unsere Ärzte.«
»Ein Medikament brauche ich!« erwiderte Tassburg. »Jemand muß ins Lager laufen und die Apotheke herbeischaffen. Wir haben eine Reiseapotheke bei uns! Petrow, ich bitte Sie, holen Sie sie mir aus dem Lager. Ich kann hier jetzt nicht weg …«
»Er kann nicht weg, weil ihn der Satan am Kragen festhält!« flüsterte Jefim. »Jakow Michailowitsch, lauf, lauf … hol ihm, was er will.«
Petrow stand und schielte Tassburg unschlüssig an, aber da es immer noch besser war, ein Medikament zu holen, als einen neuen Toten wegzutragen, setzte er sich in Bewegung und machte sich auf den Weg zum Zeltlager am Waldrand.
Dabei begegnete er dem fröhlich pfeifenden Gasisulin, der auf einem Handwagen Schaufeln und eine Hacke hinter sich herzog. Er war auf dem Weg zum Friedhof, um die Gräber auszuheben. Die Sprengpatronen hatte er in einem Sack stecken, aber den sah man nicht.
»Nichts mit Nummer vier?« rief er Petrow zu.
»Noch lebt der Ingenieur!« gab Petrow zurück. »Aber nur noch halb!«
»Ich werde vorsichtshalber das vierte Grab herrichten!«
»Sehr klug! Mein Gott, soviel Aufregungen auf einmal hat es seit fünfzig Jahren in Satowka nicht gegeben!« Petrow rannte weiter, und Gasisulin bog in den Friedhof ein, der neben der Kirche lag. Ein kleiner, magerer Friedhof, wie in alten Zeiten. Er suchte den Platz für die Gräber aus, spuckte in die Hände, ergriff zunächst die Hacke und begann, die an der Oberfläche lockere Erde aufzuhacken. Aber dreißig Zentimeter tiefer begann der Felsboden.
VII
Es war unmöglich, mit Tigran Rassulowitsch oder der Witwe Anastasia ein paar vernünftige Worte zu reden. Auch als andere Dorfbewohner herankamen, angelockt durch Petrows Dauerlauf zum Geologenlager, war es, als baue sich eine Wand auf, die nicht einmal ein Echo zurückwarf.
Ein paarmal bettelte Tassburg förmlich darum, daß jemand nach Batkit reiten möge, um den Arzt zu holen. Er selbst wagte sich nicht fort, weil er nicht wußte, wie sich Natalias Nervenfieber in den nächsten Stunden entwickeln würde.
Aber niemand rührte sich. Sie standen herum, scharten sich wie eine Kuhherde um Tigran und blickten stumm zu dem verfluchten Haus hinüber. Jefim hatte die Erklärungen übernommen. Ungeniert laut verkündete er: »Gleich wird er umfallen, liebe Brüder! Seht ihn nur an! Seht ihn an! Noch ein paar Atemzüge, und er liegt da! Das Entsetzen hat ihm alles Blut aus den Adern getrieben!«
Tassburg beschwor die Leute noch einmal, man solle nach Batkit reiten und den Arzt holen – erfolglos! Dann wandte er sich ab und ging ins Haus zurück. Seine einzige Hoffnung war nun die Reiseapotheke, die Konstantin, der handverletzte Arbeiter, vielleicht bringen würde.
Natalia war erwacht, als er ins Zimmer kam, und lag mit offenen Augen auf dem Bett. Sie reagierte sogar, drehte den Kopf zur Tür und lächelte schwach. Das war ein Fortschritt! Tassburg war mit ein paar schnellen Schritten bei ihr und kniete sich neben dem Bett nieder. Er küßte Natalias noch immer kalte Lippen und schob die Hände unter ihre Schultern.
»Nun ist alles gut«, sagte er leise. »Alles! Wie fühlst du dich?«
»Ich bin traurig …«, sagte sie kaum hörbar.
»Warum?«
»Daß ich lebe …«
»Du bist bei mir, mein Liebling.«
»Es war so schön, mit dir allein weit weg zu sein. Nur wir zwei … irgendwo im Raum … Ich wollte nie wieder auf diese verdammte,
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