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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Fingerspitzen sie streichelten und sie empfand die große, aber auch tragische Zärtlichkeit, die ihn jetzt erfüllte und seine Zunge lähmte. Sie wußte genau, was er dachte, und sie hatte Mitleid mit ihm – nicht mit sich selbst, denn dazu war sie jetzt innerlich zu glücklich. »Wenn du willst …«, begann sie leise.
    »Was … was soll ich wollen?« fragte er tonlos.
    »Ich habe eine Freundin gehabt, in Mutorej, die hat mit einer Stricknadel …«
    »Du bist wahnsinnig! Natjenka, um Himmels willen, denke doch an so etwas nicht! Sprich so etwas nie wieder aus!« Er riß sie an sich und umarmte sie. Sie schloß die Augen, lächelte selig und schmiegte sich an ihn.
    »Unser Kind!« sagte er rauh.
    »Ja, unser Kind. Wenn es ein Junge wird, wird er groß und stark wie du sein. Es muß ein Junge werden! Und wenn du später wieder fort bist, irgendwo mit einem neuen Trupp in der Taiga, werde ich dich durch ihn immer um mich haben, werde ich dich sehen, mit dir sprechen, neben dir schlafen … nur viel, viel kleiner wirst du dann sein! Und wenn ich unseren Sohn küsse, dann küsse ich auch dich, mein Liebling …«
    »Und wenn es ein Mädchen wird, habe ich zwei der schönsten Wesen aus Gottes Schöpfung um mich!«
    »Du redest so viel von Gott!« Sie blickte in die prasselnden Flammen und legte ihre Hände auf Tassburgs Hände. »Glaubst du denn an ihn?«
    »Als ich vor zweiunddreißig Jahren geboren wurde, sprach niemand von Gott. Da war Krieg, mein Vater wurde als deutschstämmiger Russe in ein Ausbildungslager bei Taschkent geschickt. Meine Mutter flüchtete mit mir in dem letzten Zug, der von der Ostsee aus ins Landesinnere fuhr, in einen winzigen Ort hinter Moskau, der Zaponowje hieß. Dort wuchs ich auf und hörte, wie meine Mutter heimlich betete. Sie erzählte mir von Gott, sagte aber gleichzeitig: ›Vergiß ihn schnell wieder! Es gibt ihn nicht, nicht mehr in Rußland! Warum ich trotzdem zu ihm bete? Damit er Rußland nicht ganz – nicht für immer vergißt! Aber du hast das nicht nötig. Du wirst einmal ein strammer Komsomolze und ein guter Kommunist werden, ein angesehener Bürger dieses Landes! Du bist ein kluges Bürschchen, Michail. Geh deinen Weg … und dabei wird dir Gott nicht helfen können!‹ Genau das sagte sie.«
    »Und jetzt redest du doch von Gott?«
    »Es gibt Augenblicke, in denen man Gott braucht! Ich hätte es nie gedacht, überhaupt nicht für möglich gehalten! Ein aufgeklärter Mensch wie ich flüchtet plötzlich zu einem Wesen, zu einem imaginären Etwas, das stärker sein soll als alles andere. Übermächtig, alles regierend und lenkend, alles bestimmend, alles wissend … Plötzlich sucht man Schutz, Antwort, Zuspruch, eine nie gekannte Väterlichkeit.«
    »Und jetzt ist solch ein Augenblick, Mischa?« fragte sie leise.
    »Ja, jetzt ist solch ein Augenblick, Natalia.«
    »Jetzt … ist Gott bei uns?«
    »Ich hoffe, daß er bei uns ist.« Er drückte sie fester an sich und küßte ihr vom Feuer erhitztes Gesicht. Sie standen vor dem Herd wie vor einem Altar, und die flammenden, krachenden Holzkloben waren wie eine goldene Ikonostase, gegen die man sprechen konnte, als stünde man neben dem Ohr Gottes.
    »Du hast Angst?« fragte Natalia, als Michail schwieg und nur ihr Gesicht streichelte.
    »Ja«, antwortete er ehrlich.
    »Vor der Geburt?«
    »Das ist noch weite Zukunft …«
    »Und Gott könnte helfen?«
    »Ich weiß es nicht. Aber es tut schon gut, wenn man sich sagen kann: Da ist ein Allmächtiger, der vielleicht – ich sage vielleicht – seine Hand ausstreckt und wie ein Dach über uns hält. Aber was unter diesem Dach geschieht, das müssen wir selbst tun!«
    »Unser Kind …«, sagte sie wieder mit einer so sanften Zärtlichkeit, daß es ihn heiß durchrann. »Unser Kind …«
    »Ich werde dich von Dr. Plachunin untersuchen lassen.«
    »Nein! Keiner wird mich untersuchen. Niemand faßt meinen Leib an … Das darfst nur du!«
    »Ostap Germanowitsch ist Arzt, Natalia. Er hat unzählige Frauen untersucht. Er wird uns auch genau sagen können, wann unser Kind kommt.«
    »Das kann ich auch.« Sie schloß wieder die Augen und schmiegte sich an ihn. »Ich habe es gespürt, Mischa. Ganz klar gespürt. In mir war eine Flamme …«
    »Du bist wunderbar«, sagte er kaum hörbar. »Ich liebe dich und kann es dir nicht sagen …«
    »Warum nicht?«
    »Für diese Liebe gibt es keine Worte mehr. Hier hat unsere Sprache Grenzen. Nur die Musik könnte es noch ausdrücken …«
    »Musik?«

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