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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nach einem Essen, das aus Blinis und Bohnengemüse bestanden hatte. Natalia und Michail saßen nebeneinander am Feuer und waren wieder einmal in dem Glücksgefühl versunken, jeder den anderen zu spüren, ihm so nah zu sein, als sei man miteinander verwachsen.
    Es mußte ein Sonnabend sein, denn durch den Schnee, so, als sei sie ganz fern, drang der dünne Klang der Kirchenglocke. Tigran Rassulowitsch vergaß nie, den Sonntag einläuten zu lassen, der bei ihm mit Einbruch der Dunkelheit des Sonnabends begann.
    »Es ist etwas geschehen, Mischa«, sagte Natalia. Sie beugte sich vor und schob einen Holzkloben in das aufflackernde Feuer. Sie blieb, nach vorn gebeugt, sitzen. »Etwas sehr Schönes …«
    »Ich weiß, du bist wieder ganz gesund …« Tassburg küßte ihren Nacken, nachdem er ihre langen Haare weggeschoben hatte. Sie nickte und hielt seine Hände fest.
    »Ich bin ganz gesund«, wiederholte sie mit jener Zärtlichkeit, die ihn immer wieder ergriff. »Wundervoll gesund, Mischa. Göttlich gesund. Ich bekomme ein Kind …«
    Millionenfach schon hat dieser Satz, zwischen zwei Menschen gesprochen, eine Welt verändert oder eine neue kleine Welt geschaffen: Freude und Glück – aber auch Nachdenken oder Schuldgefühle …
    In Tassburg stritten nach Natalias Worten die widersprüchlichsten Empfindungen. Wären sie in Omsk gewesen, in Tassburgs kleiner Wohnung am Leninprospekt, verheiratet, sicher in einer geordneten Welt, welch ein Taumel des Glücks wäre über beide gekommen bei dem einen Satz: »Ich bekomme ein Kind!« Sie wären sich in die Arme gefallen, Michail hätte Natalia geküßt, bis sie nach Atem gerungen hätte, er hätte sie umhergetragen in der Wohnung und ausgerufen: »Seht! Seht! Meine Natjenka! Ein Mütterchen wird sie! Und ob es ein Sohn wird oder ein Mädchen … es wird in jedem Fall das schönste Kind Rußlands sein! Ein Kind! Unser erstes Kind! Ich werde es in Samt und Seide wickeln!« Er hätte sich garantiert so verrückt benommen wie alle jungen Väter, die in einem Kind die himmlische letzte Erfüllung ihrer Liebe sehen.
    Aber hier war man in Satowka! Lebte verborgen in einem seit 150 Jahren verfluchten Haus, mußte alle möglichen Tricks anwenden, damit niemand das Haus betrat und rechnete damit, daß nach dem Ende des Schneesturms ein Hubschrauber landen würde, um die Kolonne der Geologen mit allen nötigen Gerätschaften für den Winter auszurüsten. Das hieß: Weiter, fort aus Satowka! Neuland erobern! Pionier sein für den sowjetischen Fortschritt!
    Und da war plötzlich ein Kind, wuchs in einem noch schmalen, schlanken Mädchenleib. In Natalia, auf deren Ergreifung man ein Kopfgeld gesetzt hatte, die gesucht wurde, die wochenlang durch die Taiga geflüchtet war und die jetzt nur noch weiterlebte, weil sie einen Menschen getötet hatte …
    Wem ist es da zum Jubeln, Freunde?
    Tassburg, der seine Hände in Natalias Haar vergraben hatte, starrte auf ihren Nacken, über den das Licht des Feuers huschte. Sie hielt den Kopf noch immer gebeugt, und er hielt sie fest, als wolle sie sich in die Flammen stürzen und nur sein Eisengriff hielte sie davon ab …
    Ein Kind, dachte er. Mein Gott, das ist doch wirklich etwas Wunderbares! Natalia und ich werden ein Kind haben! Aber vielleicht wird es geboren werden tausend Werst von aller Zivilisation entfernt, auf dem Boden eines Zeltes. Und seine Genossen würden ihm zur Not helfen, die Nabelschnur durchzuschneiden – aber was dann? Wenn es Komplikationen mit der Nachgeburt gibt, wenn sie weiter blutet, wenn sie Fieber bekommt oder eine Vergiftung? Und das Kind! Was machen wir mit dem Kind in der Einsamkeit …
    Um sie herum würde völlige Verlassenheit sein, die Urweltlandschaft der Taiga, und er, Michail, würde noch nicht einmal den Hubschrauber von der Zentrale rufen können, um Natalia in das nächste Krankenhaus bringen zu lassen, weil sie ja gesucht wurde und weil man sofort fragen würde: »Wo ist der Natschalnik Rostislaw Alimowitsch Kassugai geblieben? Man hat da etwas munkeln hören … Stimmt das? Mit einer durchschnittenen Kehle soll er aus dem verfluchten Haus gewankt sein! Wer hat da das Messer geführt, na?«
    Ein Kind! Jetzt ein Kind! Und noch Monate Winter, sibirischer Frost, unbarmherzige Kälte lagen vor ihnen …
    »Du sagst nichts«, sagte Natalia leise und starrte in die Flammen. Der neue Holzkloben hatte Feuer gefangen und knackte laut. Tassburgs Hände hielten noch immer ihren Kopf umfangen, sie spürte, wie seine

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