Natascha
Westens aufgeholt. Ja, wir werden ihn überrunden, den Westen!«
Natascha nickte. Sechs Jahre haben wir gewartet, dachte sie. Und was erzählt man sich? Von Kapseln, in denen Menschen in den Himmel geschossen werden. Und Angst hatte sie. Angst vor der Nacht. Angst vor den Zärtlichkeiten, in denen sechs Jahre ertrinken sollten.
In seinem Zimmer schnarchte Luka schon. Durch die dünne Wand hörte man es.
»Du bist müde?« fragte Sedow und legte den Arm um Nataschas Nacken.
Sie nickte. Wie wenn man mir den Hals zuschnürt, so ist's, dachte sie. So fremd ist er, dieser Luka Nikolajewitsch Sedow, und er ist mein Mann, sechs Jahre schon. War's doch ein Fehler, nach Jessey zu fahren?
»Komm«, sagte Sedow leise. »Im Sommer ist auch die Nacht in Sibirien kurz –«
Jetzt müßte immer Tag sein, dachte Natascha. O hätte ich doch die Sonne festhalten können … Langsam ging sie mit in den Nebenraum, und der Atem Sedows hinter ihr war kurz und heftig …
Acht Tage blieben sie in Jessey, draußen, mitten im Wald, in dem geheimnisvollen weißen Dorf, von fünf Sperren umgeben und bewacht von Flugzeugen, die weit um den Wald herumkreisten. Juli war es nun, und Luka rannte herum wie ein Riesenaffe, mit bloßem Oberkörper und mit einer Badehose, die ein Schneider der Bewachungskompanie angefertigt hatte. Zwar starrte man ihn entgeistert an, aber es gab keinen Auflauf wie in Moskau.
Zweimal sang Natascha in der stolowaja der geheimnisvollen Stadt vor den Ingenieuren und Arbeitern Lieder vom Don und der Wolga. Dann saß Sedow in der ersten Reihe, und wie ein Pfau spreizte er sich und blähte sich auf wie ein balzender Hahn.
Am neunten Tag – Sedow war wieder auf seiner Versuchsstation und Natascha stand am Ofen und kochte – trat Besuch in das Haus. Ganz unverhofft war er da, und Luka, der faul auf seinem Bett lag und unter der Hitze stöhnte, richtete sich auf und schrie: »Was ist denn das?! Nicht einmal in Sibirien hat man Ruhe vor der Wanze!«
Nicht leugnen ließ es sich, und eine Träumerei war's auch nicht … er war da, Freunde, leibhaftig, dick, schwitzend, mit breitem Lächeln und einem Blumenstrauß.
Anatoli Doroguschin war's.
Wen wundert's, daß Natascha erst erstarrt war? Dann rannte sie auf den Dicken zu und umarmte ihn wie ein Väterchen, herzte ihn und jubelte. Verdammt, die Augen wurden Luka feucht, und nicht nur, weil er schwitzte, Genossen. Vergessen war das böse Spiel, das Doroguschin getrieben hatte. Ein erlösender Engel war er, eine Befreiung, ein Stückchen Glanz aus einer anderen Welt.
»Anatoli!« sagte Natascha, nachdem sie ihn genug umarmt und auf die schwitzenden Wangen geküßt hatte. »Woher kommen Sie? Sind Sie frei? Was hat man Ihnen getan? Warum sind Sie hier?«
»Abholen soll ich Sie, Natascha Tschugunowa. Sofort!« Doroguschin setzte sich auf einen Stuhl und trank schnell ein großes Glas kühles Wasser, das Natascha ihm brachte. »Vieles hat sich verändert … man hat es Ihnen nicht gesagt?«
»Nein –«
»Berija ist verhaftet. Vielleicht hat man ihn schon erschossen. Man säubert, mein Täubchen. Vieles wird umgestellt, in der Politik, in den Jahresplänen, in der Kultur. Ein neuer Geist kommt, ein modernes Gesicht Rußlands. Und Sie müssen sofort zurück – in einer Stunde geht der Zug von Jessey …«
Natascha sah aus dem Fenster. Das weiße Haus, in dem Sedow arbeitete, konnte sie sehen. Keine Ahnung hatte er … an seinen blitzenden Geräten stand er jetzt, ein glücklicher Mensch, der auf den Abend wartete.
»Ich muß mich von meinem Mann verabschieden«, sagte sie. »Luka kann packen …«
»Zum Abschied ist keine Zeit, Natascha! Leg ihm einen Zettel auf den Tisch, ein liebes Briefchen … Es wird nicht wieder sechs Jahre dauern, bestimmt nicht.«
Natascha blieb am Ofen stehen. O weh, dachte Doroguschin, diese Augen, dieser Mund, dieser starre Kopf. Schon wieder geht es los mit ihr. Nur Schwierigkeiten hat man, weil so ein Weibchen einen eigenen Kopf besitzt.
»Ich muß mit Sedow noch einmal sprechen!« rief sie.
»Warum? Du kannst ihm alles schreiben. Der Zug bleibt nicht stehen … und in Moskau warten sie auf uns! Eine Festaufführung, Nataschka … vor allen westlichen Diplomaten. Politik ist's … Schwierigkeiten wird es geben, wenn wir nicht pünktlich sind. Und können wir Schwierigkeiten gebrauchen, jetzt, wo Berija weg ist?«
»Geändert hat sich alles?« schrie Natascha.
»Glauben wir es, Täubchen. Glauben wir es.« Doroguschin wischte sich den
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