Nathalie küsst
es nicht unnatürlich aussah, trank er mehrere Tassen. Nach einer Stunde geriet er allmählich in eine etwas zu fieberhafte Stimmung. Geringe Schlaf- und hohe Kaffeedosen ergeben eine gefährliche Mischung. Er ging auf die Toilette, fand, dass er einen benommenen Eindruck machte. Kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück. Für heute stand gar keine Sitzung mit Nathalie auf dem Programm. Vielleicht sollte er einfach bei ihr klopfen? Unter dem Vorwand der Akte 114. Doch hinsichtlich der Akte 114 gab es rein gar nichts zu besprechen. Das wäre ja dämlich. Die Zweifel zernagten ihn, er hielt es nicht mehr aus. Eigentlich war es doch an ihr, zu ihm zu kommen! Sie war diejenige, die ihn geküsst hatte! So etwas durfte man nicht tun, sie musste eine Erklärung abgeben. Das war, wie etwas zu stehlen und dann schnell das Weite zu suchen. Genauso war’s: Sie hatte in seinem Mund das Weite gesucht. Dennoch war ihm klar, dass sie nicht zu ihm kommen würde. Womöglich hatte sie diesen Augenblick gar vergessen, womöglich stellte dieser Kuss für sie nichts als einen grundlosen, unmotivierten Akt dar. Er hatte das richtige Gespür. Diese Möglichkeit schloss aus seiner Sicht eine schreckliche Ungerechtigkeit ein: Wie konnte ein Kuss, der für ihn unschätzbaren, ja unerschwinglichen Wert besaß, für sie grundlos und unmotiviert erfolgt sein? Dieser Kuss, er spürte ihn überall, am ganzen Körper.
41
Auszug aus einer Bildanalyse von
Der Kuss
von Gustav Klimt
Die meisten Werke von Klimt bieten Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen, doch die Art und Weise der Thematisierung des Motivs des sich umschlungen haltenden Paars in Bildern wie dem Beethoven-Fries und dem Stoclet-Fries lässt darauf schließen, dass es sich bei
Der Kuss
um den höchsten Erfüllungsgrad der menschlichen Glückssuche handelt.
42
Markus gelang es nicht, sich zu konzentrieren. Er wollte eine Erklärung haben. Um an diese Erklärung heranzukommen, gab es nur einen Weg: Er musste dem Schicksal etwas nachhelfen. Vor Nathalies Arbeitszimmer auf und ab gehen, wenn nötig, den ganzen Tag. Früher oder später würde sie herauskommen und schwuppdiwupp … da stand er, der gerade rein zufällig vor ihrem Arbeitszimmer auf und ab ging. Kurz vor Mittag war er komplett schweißgebadet. Plötzlich fuhr es ihm durch den Sinn: «Ich erstrahle nicht gerade in meinemvollen Glanz!» Wenn sie jetzt herauskäme, würde sie auf einen untätig und schweißtriefend den Gang auf und ab stiefelnden Typen stoßen, der seine Zeit verplemperte. Sie würde ihn für jemanden halten, der grundlos und unmotiviert auf und ab stiefelt.
Nach dem Mittagessen meldeten sich seine Pläne vom Vormittag mit Macht zurück. Seine Vorgehensweise war die richtige, er musste weiter auf und ab gehen. Das war die einzige Möglichkeit. Auf und ab zu gehen und dabei so zu tun, als würde man irgendwohin gehen, ist keine leichte Aufgabe. Er musste entschlossen und konzentriert wirken. Am schwierigsten war es, sich mit gestellter Hochgeschwindigkeit fortzubewegen. Am Spätnachmittag, als er schon vollkommen erschöpft war, lief ihm Chloé über den Weg. Sie erkundigte sich:
«Geht’s dir gut? Du siehst so komisch aus …»
«Jaja, mir geht’s gut. Ich vertrete mir gerade ein bisschen die Beine. So kann ich besser nachdenken.»
«Sitzt du immer noch über der 114?»
«Ja.»
«Und läuft’s gut?»
«Ja, geht so. Einigermaßen.»
«Hör mal, die Sache mit der 108 macht mir nichts als Sorgen. Ich wollte schon mit Nathalie darüber reden, aber sie ist ja heute nicht da.»
«Ach? Echt? Sie ist … nicht da?», erkundigte sich Markus.
«Na … ich glaub, sie ist auf Dienstreise in der hintersten Provinz. Na gut, ich muss mal weiter, ich werd versuchen, das zu erledigen.»
Markus zeigte keine Reaktion.
Er war so viel gelaufen, dass er genauso gut in der hintersten Provinz hätte sein können.
43
Drei Aphorismen von Cioran, die Markus in der Schnellbahn gelesen hat
Die Kunst zu lieben? Sie besteht darin, mit dem
Temperament eines Vampirs die Diskretion einer
Anemone zu vereinen.
Ein Mönch und ein Metzger streiten sich
im Innern einer jeden Lust.
Beim Spermatozoon handelt es sich
um die Reinform eines Banditen.
44
Am folgenden Tag kam Markus in einem völlig anderen Gemütszustand in die Arbeit. Er verstand nicht mehr, wie er sich so töricht hatte verhalten können. Was für ein dummer Einfall, so auf und ab zu gehen. Der Kuss hatte ihn total aus demGleichgewicht geworfen,
Weitere Kostenlose Bücher