Nathalie küsst
willigte ein, und im Gefühl, dass das ja schon die halbe Miete war, ließ er sich nieder. Wie er so dasaß, ging es Nathalie durch den Kopf: Er ist dämlich. Will mir ein Getränk spendieren, wo mein Glas noch fast voll ist. Dann schwenkte ihre Meinung unvermittelt um. Seine Unentschlossenheit in dem Moment, in dem er auf sie zugekommen war, war doch rührend gewesen, dachte sie sich. Abererneut meldete sich der Unwille in ihr zu Wort. Ihre widerstreitenden Launen schwankten unentwegt hin und her. Sie wusste ganz einfach nicht, was sie von ihm zu halten hatte. Jede ihrer Regungen unterlag einem anderen Willen.
Chloé nahm die Konversation in die Hand und türmte Anekdoten auf, die Nathalie in ein positives Licht rückten. Denen zufolge war Nathalie eine moderne, bestechende, witzige, kultivierte, dynamische, bestimmte, edle und bedingungslose Frau. In weniger als fünf Minuten ging der ganze Schwall über den Mann nieder, sodass dieser sich nur noch eines fragte: Und wo ist der Haken an der Sache? Während Chloé sich in lyrische Höhen aufschwang, war Nathalie bemüht gewesen, ein glaubwürdiges Lächeln aufzusetzen, ihre Wangenmuskeln zu lockern, und als sie hie und da auflachte, wirkte sie natürlich. Doch der Aufwand hatte sie ausgelaugt. Wozu war es gut, wenn sie sich um eines trügerischen Scheins willen so verausgabte? Wozu war es gut, wenn sie all ihre Kräfte aufbot, um sich umgänglich und liebenswürdig zu geben? Und außerdem, wie sollte das denn weitergehen? Mit der nächsten Verabredung? Er würde sie immer mehr ins Vertrauen ziehen, das lag in der Natur der Dinge. Mit einem Mal erschien ihr alles Einfache und Leichte in den finstersten Farben. Sie sah im Gewand einer harmlosen Unterhaltung die monströse Spirale des Beziehungslebens.
Sie entschuldigte sich und stand auf, um auf die Toilette zu gehen. Eine lange Weile betrachtete sie sich im Spiegel. Beobachtete jede Einzelheit ihres Gesichts. Beträufelte ihreWangen mit ein wenig Wasser. Fand sie sich selbst schön? Hatte sie über sich selbst eine Meinung? Bezüglich ihrer Weiblichkeit? Sie musste wieder zurück. Schon seit ein paar Minuten stand sie nun hier, reglos in ihrer Betrachtung, in ihren Gedankengängen. Zurück am Tisch griff sie nach ihrem Mantel. Sie erfand eine Ausrede, strengte sich aber nicht an, sich etwas glaubhaft Klingendes auszudenken. Chloé sagte noch einen Satz, den sie nicht mehr hörte. Sie war schon draußen. Wenig später, als der Mann sich schlafen legte, fragte er sich, ob er sich ungeschickt angestellt hatte.
34
Die Sternzeichen der Mitglieder von Nathalies Team
Chloé: Waage
Jean-Pierre: Fische
Albert: Stier
Markus: Skorpion
Marie: Jungfrau
Benoît: Steinbock
35
Als Nathalie sich am darauffolgenden Morgen eilig bei Chloé entschuldigte, ging sie auf keine Einzelheiten ein. Im Büro gab sie den Ton an. Nathalie war eine starke Frau. Sie erklärte einfach, dass sie sich im Augenblick nicht in der Lage fühle, an Vergnügungen teilzunehmen. «Schade», flüsterte die junge Kollegin. Das war’s. Beide mussten sich wieder anderen Dingen zuwenden. Nathalie blieb nach diesem kurzen Wortwechsel einen Moment im Gang stehen. Dann kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Endlich sah sie all die Akten in ihrem wahren Licht: in ihrer vollkommenen Bedeutungslosigkeit.
Sie hatte die Welt der Sinne nie voll und ganz hinter sich gelassen. War immer eine Frau aus Fleisch und Blut geblieben, auch in den Momenten, in denen sie sterben wollte. Vielleicht François zu Ehren, vielleicht war ihr auch der schlichte Gedanke gekommen, dass es mitunter reicht, Schminke aufzutragen, um lebendig zu wirken. Seit drei Jahren war er nun tot. Seit drei Jahren dümpelte ihr Leben in Ödnis dahin. Man hatte ihr oft ans Herz gelegt, sie solle sich von ihren Erinnerungen trennen. Das sei wohl die beste Art, dem Leben in der Vergangenheit ein Ende zu setzen. Sie ließ sich diesen Ausdruck auf der Zunge zergehen: «Sich vonseinen Erinnerungen trennen.» Wie konnte man seine Erinnerungen abstreifen? In Bezug auf Gegenstände hatte sie das Verfahren angewandt. Die Gegenwart von Dingen, die er berührt hatte, hielt sie nicht mehr aus. Demnach war nicht viel übrig geblieben, außer einem Foto, das in der großen Schreibtischschublade lag. Einem Foto, das sich scheinbar dorthin verirrt hatte. Sie holte es oft heraus, wie um sich zu vergewissern, dass dieser Abschnitt ihres Lebens tatsächlich stattgefunden hatte. Außerdem befand sich in der
Weitere Kostenlose Bücher