Nathalie küsst
gewichen ist. Wieso gerade jetzt? Warum nicht später oder schon früher? Der Körper fällt eine willkürliche Entscheidung. Was dieses Kussbedürfnis anging, durfte Markus keine wirkliche Erklärung verlangen. Er war im rechten Moment erschienen. Diese schlichte Frage des rechten Moments ist übrigens bei den meisten Lieben von größter Bedeutung. Markus, der so viel in seinem Leben verpasst hatte, erkannte soeben, dass er imstande war, im geeigneten Augenblick ins Blickfeld einer Frau zu treten.
Nathalie hatte die Verzweiflung in Markus’ Blick gelesen. Nach dem letzten Gespräch war er langsam von dannen gezogen. Absolut geräuschlos. Diskret wie ein Strichpunkt in einem 800-Seiten-Roman. So konnte sie das nicht stehen lassen. Ihr Verhalten war ihr furchtbar peinlich. Außerdem ging ihr durch den Kopf, dass Markus eigentlich ein reizender Kollege war, der mit allen respektvoll umging, und somit wuchs ihr Unbehagen beim Gedanken, ihn möglicherweise verletzt zu haben. Sie ließ ihn noch einmal in ihr Büro rufen. Er nahm die Akte 114 unter den Arm. Für den Fall, dass sie ihn aus geschäftlichem Anlass sprechen wollte. Obwohl ihm die Akte 114 dermaßen schnuppe war. Auf seinem Gang zu dieser Vorladung machte er einen Schlenker auf die Toilette, um sich ein wenig Wasser ins Gesicht zu träufeln. Er öffnete die Tür, neugierig auf das, was sie ihm zu sagen haben würde.
«Danke, dass Sie gekommen sind.»
«Bitte.»
«Ich wollte mich entschuldigen. Ich wusste vorhin nicht, was ich Ihnen sagen soll. Und um ehrlich zu sein, weiß ich jetzt auch nicht mehr …»
«…»
«Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Wahrscheinlich ein körperliches Verlangen … aber wir arbeiten zusammen, und ich muss festhalten, dass das reichlich unangebracht von mir war.»
«Sie reden ja wie eine Amerikanerin. Das ist immer ein schlechtes Zeichen.»
Sie musste lachen. Welch eine kuriose Antwort. Es war das erste Mal, dass sie ein anderes Thema als eine Aktehatten. Sie bemerkte so etwas wie einen Hinweis auf seinen eigentlichen Charakter. Sie musste sich zusammennehmen.
«Ich rede wie jemand, der für ein sechsköpfiges Team verantwortlich ist, zu dem auch Sie gehören. Sie sind in einem Moment hereingekommen, in dem ich in Träumereien versunken war, und ich habe die Wirklichkeit des Augenblicks wohl nicht ganz erfasst.»
«Aber das war der wirklichste Augenblick meines ganzen Lebens», hatte Markus spontan protestiert. Er sprach ganz offenherzig zu ihr.
Klingt, als sollte das keine leichte Kiste werden, dachte Nathalie. Lieber schnell die Konversation beenden. Was sie denn auch tat. Auf etwas barsche Weise. Markus verstand anscheinend nicht. Er stand wie angewurzelt in ihrem Büro und rang vergeblich um die Kraft, sich aus dem Staub zu machen. Um die Wahrheit zu sagen, als sie ihn vor zehn Minuten hatte rufen lassen, hatte er sich ausgemalt, dass sie ihn womöglich erneut küssen wollte. Er war durch diese Traumwelt gestreift, und nun war er gerade dabei, endgültig zu begreifen, dass zwischen ihnen nie wieder etwas sein würde. Er musste von Sinnen gewesen sein, daran geglaubt zu haben. Sie hatte ihn bloß einfach so geküsst. Das war schwer zu akzeptieren. Man hatte ihm das Glück geschenkt und es ihm dann gleich wieder entrissen. Er wünschte, den Geschmack von Nathalies Lippen nie kennengelernt zu haben. Wünschte, diesen Moment nie erlebt zu haben, er spürte nämlich, dass er Monate brauchen würde, um sich von diesen paar Sekunden zu erholen.
Er bewegte sich Richtung Tür. Überrascht registrierte Nathalie, dass sich in Markus’ Auge eine Träne bildete. Eine Träne, die noch nicht geflossen war, sondern wartete, bis er draußen im Gang war, um dort zu entweichen. Er wollte diese Träne zurückhalten. Wollte vor allem vor Nathalie nicht weinen. Wie dumm, doch diese Träne, die er weinen würde, kam ganz unvorhergesehen.
Es war das dritte Mal, dass er vor einer Frau weinte.
47
Gedanke eines polnischen Philosophen
Es gibt großartige Menschen, die man im Leben zum falschen Zeitpunkt trifft. Und es gibt Menschen, die großartig sind, weil man sie im rechten Moment trifft.
48
Ein kleiner sentimentaler Rückblick auf Markus’ Tränen
Sehen wir zunächst von den Tränen der Kindheit, den Tränen, die Markus vor seiner Mutter sowie vor seiner Grundschullehrerin vergoss, ab. Hier geht es nur um die Tränen derLiebe. Bevor Markus sich bemüht hatte, vor Nathalie diese Träne zu unterdrücken, hatte er also
Weitere Kostenlose Bücher