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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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Schublade ein kleiner Spiegel. Sie nahm ihn zur Hand und betrachtete sich, so wie es ein Mann tun würde, der sie zum ersten Mal sah. Sie stand auf und begann, im Büro auf und ab zu gehen. Stemmte die Hände in die Hüften. Durch die Auslegeware war der Klang ihrer hohen Absätze nicht zu hören. Auslegeware tötet jegliche Sinnlichkeit ab. Welcher Idiot war nur auf die Idee verfallen, die Auslegeware zu erfinden?

 
36
    Es klopfte dezent. Ein allenfalls zweifingriges Klopfen. Nathalie zuckte zusammen, als hätten sie die vergangenen Minuten glauben gemacht, allein auf der Welt zu sein. Sie rief: «Herein!», und Markus betrat den Raum. Der Kollege stammte ursprünglich aus dem schwedischen Uppsala, einer Stadt, die die Welt nicht sonderlich bewegt. Selbst denEinwohnern von Uppsala[ 1 ] haftet eine gewisse Verlegenheit an: Der Name ihrer Stadt klingt geradezu nach einer Entschuldigung. Schweden hat die höchste Selbstmordrate der Welt. Als Gegenentwurf zum Selbstmord bietet sich das Auswandern nach Frankreich an, so weit wohl Markus’ Überlegungen. Seine äußere Erscheinung war eher unangenehm, aber man konnte auch nicht behaupten, dass er hässlich war. Sein Kleidungsstil hatte stets etwas leicht Ausgefallenes: Man fragte sich, ob er sich seine Sachen bei seinem Großvater, der Altkleidersammlung oder in einer angesagten Secondhandboutique besorgte. Im Ganzen ergab das ein nicht sonderlich einheitlich wirkendes Ensemble.
    «Ich wollte Sie wegen der Akte 114 sprechen», sagte er.
    Musste es sein, dass er zusätzlich zu seinem komischen Aussehen auch noch so dümmliche Sätze von sich gab? Nathalie hatte heute überhaupt keine Lust zu arbeiten. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Ihr kam ihre Lage ausweglos vor. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre in einen Urlaub nach Uppsala aufgebrochen, das will einiges heißen. Sie sah diesen Markus an, der sich nicht von der Stelle bewegte. Und der ihren Blick entzückt erwiderte. Nathalie stellte für ihn die Art von unerreichbarer Frau dar, die die Phantasie beflügelt, die manche gegenüber jeder höherstehenden Person entwickeln, gegenüber jeglichem Wesen, das in der Position ist, Gewalt über sie auszuüben. Sie entschied jedenfalls, aufihn zuzugehen, ganz langsam, so richtig langsam. Fast hätte man Zeit gehabt, derweilen einen Roman zu lesen, so langsam ging sie. Sie schien nicht zum Stehen kommen zu wollen, sodass sie nun Markus’ Gesicht ganz nahe war, sodass ihre Nase die seine berührte. Beim Schweden setzte die Atmung aus. Was wollte sie von ihm? Es blieb ihm keine Zeit, die Frage in seinem Kopf weiter auszuformulieren, denn sie begann, ihn heftig zu küssen. Ihn lange und eindringlich mit jugendlicher Intensität zu küssen. Dann wich sie plötzlich zurück:
    «Die Akte 114 schauen wir uns später an.»
    Sie öffnete die Tür und legte Markus nahe, ihr Büro zu verlassen. Wozu er nicht so einfach zu bewegen war. Er fühlte sich wie Armstrong, der soeben den Mond betreten hatte. Dieser Kuss war ein großer Schritt für die Menschheit. Eine Weile stand er still vor der Bürotür. Nathalie hingegen hatte schon wieder komplett vergessen, was eben vorgefallen war. Ihr Akt stand in keinerlei Zusammenhang mit anderen Akten ihres Lebens. Mit diesem Kuss hatten ihre Neuronen eine jähe anarchische Kundgebung abgehalten, dieser Kuss war ein grundloser, unmotivierter Akt.
     
     
    1 Gewiss ist es möglich, in Uppsala geboren zu sein und ein Ingmar Bergman zu werden. Nachdem wir dies geklärt hätten, darf man auch sagen, dass Bergmans Filme helfen können, sich die Gemütslage dieser Stadt vorzustellen.

 
37
    Zur Erfindung der Auslegeware
    Wer die Auslegeware erfunden hat, ist gar nicht so leicht herauszufinden. Dem
Larousse
zufolge ist Auslegeware ein «Teppich, der nach Metern verkauft wird».
    Da haben wir doch eine Formulierung, die die schäbige Natur von Auslegeware belegt.

 
38
    Markus war ein gewissenhafter Bursche, der es liebte, um Schlag 19 Uhr 15 nach Hause zu fahren. Den Fahrplan seiner Schnellbahn kannte er so in- und auswendig wie andere das Lieblingsparfum ihrer Frau. Er war mit der Reibungslosigkeit seines Tagesablaufs nicht unzufrieden. Bisweilen kam es ihm so vor, als seien die Fremden, denen er Tag für Tag begegnete, seine Freunde. An jenem Abend hätte er schreien und allen Leuten seine Geschichte erzählen mögen. Die Geschichte, in der Nathalies Lippen die seinen geküsst hatten. Er hatte Lust aufzustehen und an der erstbesten

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