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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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und obwohl man dazusagen muss, dass es in seinem Liebesleben in letzter Zeit besonders beschaulich zugegangen war, war das noch kein Grund, sich derart kindisch zu benehmen. Er hätte ruhig Blut bewahren müssen. Er forderte zwar nach wie vor eine Aussprache mit Nathalie, aber er würde nicht mehr versuchen, einen fingierten Zufall ins Spiel zu bringen, um sie zu treffen. Er würde einfach zu ihr hineingehen.
    Energisch klopfte er an die Tür ihres Arbeitszimmers. Sie sagte «herein», und er trat unumwunden ein. Da bekam er es mit einem größeren Problem zu tun: Sie war beim Friseur gewesen. Markus war jemand, der immer sehr auf die Haare bedacht war. Und hier bot sich ihm ein sagenhaftes Schauspiel. Nathalie hatte vollendet glattes Haar. Verblüffend schön. Wenn sie es nur zusammengebunden hätte, wie sie es mitunter tat, wäre alles einfacher gewesen. Aber angesichts eines solchen Aufmarschs der Kapillaren fehlten ihm die Worte.
    «Ja, Markus, was führt Sie zu mir?»
    Er brach seine gedanklichen Abschweifungen ab. Und sprach den erstbesten Satz, der ihm in den Sinn kam:
    «Sie haben so schönes Haar.»
    «Danke, sehr aufmerksam.»
    «Nein, es gefällt mir wirklich sehr.»
    Diese morgendlichen Bekundungen verwunderten Nathalie. Sie wusste nicht recht, ob sie lächeln sollte oder Grund zur Verlegenheit hatte.
    «Ja, und nun?»
    «…»
    «Sie sind doch nicht bloß gekommen, um mit mir über meine Haare zu plaudern?»
    «Nein … nein …»
    «Also? Ich höre.»
    «…»
    «Markus, sind Sie noch da?»
    «Ja …»
    «Nun?»
    «Ich will wissen, warum Sie mich geküsst haben.»
    Aus der Tiefe ihrer Erinnerung tauchte der Kuss wieder auf. Wie hatte sie den vergessen können? Die Bilder fügten sich wieder zusammen, und sie verzog ein wenig angewidert den Mund, sie konnte den Reflex nicht unterdrücken. War sie verrückt geworden? Seit drei Jahren hatte sie sich keinem Mann angenähert, war überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, sich für einen zu interessieren, und mit einem Mal hatte sie diesen unscheinbaren Kollegen geküsst. Er stand da und wartete auf eine Begründung, was nur allzu verständlich schien. Die Zeit lief. Sie musste etwas sagen:
    «Ich weiß es nicht», hauchte sie.
    Markus war auf alles gefasst, sogar darauf, von ihr zurückgewiesen zu werden, aber sicherlich nicht auf dieses Nichts.
    «Sie wissen es nicht?»
    «Nein, ich weiß es nicht.»
    «Damit können Sie mich nicht abspeisen. Sie müssen es mir erklären.»
    Es gab nichts zu erklären.
    Dieser Kuss war wie moderne Kunst.

 
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    Titel eines Gemäldes von Kasimir Malewitsch aus dem Jahre 1919
    Weißes Quadrat auf weißem Grund

 
46
    In der Folge war sie in sich gegangen: Wieso dieser Kuss? Er war einfach so geschehen. Man hat seine innere biologische Uhr eben nicht im Griff. Die Uhr der Trauer in dem Fall. Sie hatte sterben wollen, sie hatte versucht, wieder Fuß zu fassen, sie hatte es geschafft, Fuß zu fassen, zu essen und ihre Arbeit wiederaufzunehmen, ein Lächeln aufzusetzen, stark zu sein, sich aufgeschlossen zu zeigen und ihre weibliche Seite zu betonen, und darüber war die Zeit vergangen, in der sie ihre immer wieder ins Stocken geratende Energie darauf verwandte, sich wiederaufzurichten, bis zu dem Tag, an dem sie diese Bar betreten hatte, aus der sie dann geflüchtet war, weil sie es nicht ertragen hatte, wie der Kreis des Verführungsreigens sich drehte, weil sie überzeugt war, dass sie nie wiederGefallen an einem Mann finden würde, doch am nächsten Morgen war sie über die Auslegeware spaziert, nur so, aus einem Antrieb heraus, der einer gewissen Unentschiedenheit entsprang, sie hatte gefühlt, dass ihr Körper ein Objekt der Begierde war, hatte ihre Rundungen und Hüften gespürt, und sie hatte sogar bedauert, dass man den Klang ihrer hohen Absätze nicht hören konnte, all das war ganz unvermittelt passiert wie die unangekündigte Geburt eines Lebensgefühls, einer strahlenden Kraft.
    Und in diesem Moment war Markus ins Zimmer gekommen.
    Sonst gab es nichts zu erklären. Unsere innere Uhr tickt nicht nach den Regeln der Vernunft. Es ist genau wie beim Liebeskummer: Man weiß nicht, wann man wieder auf die Beine kommen wird. In den Augenblicken des schlimmsten Schmerzes glaubt man, man werde für immer eine klaffende Wunde mit sich herumtragen. Und dann, eines Morgens, wundert man sich, dass die schreckliche Last, die man auf sich getragen hat, weg ist. Vollkommen überrascht stellt man fest, dass die Beklommenheit

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