Nathalie küsst
normannischen Hausherrn. Was ihn wunderte: Er bekam gar keine Kopfschmerzen. Was ihn noch mehr wunderte: Er begann, an der Zigarre Geschmack zu finden. Männlichkeit durchströmte ihn, und er wirkte darüber nicht einmal überrascht. Er hatte das befremdende Gefühl, mit diesen vergänglichen Rauchschwaden das pralle Leben in sich einzusaugen. Diese Zigarre machte ihn zu Markus Magnus.
Madeleine war beglückt, ihre Enkelin lächeln zu sehen. Als François gestorben war, hatte sie so viel geweint: Es verging kein Tag, an dem Madeleine nicht daran dachte. Sie war in ihrem Leben Zeugin von allerlei Dramen geworden, doch dieses war das schrecklichste gewesen. Sie wusste, dass es weitergehen musste, dass man sich im Leben vor allem nicht unterkriegen lassen durfte. Insofern war sie nun zutiefst erleichtert. Und zu allem Überfluss war dieser Schwede ihr instinktiv richtig sympathisch:
«Er ist eine gute Haut.»
«So, so, woran merkst du das?»
«Das merkt man. Instinktiv. Er ist eine sehr gute Haut.»
Nathalie drückte ihre Großmutter noch einmal an sich. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Markus machte seine Zigarre aus und sagte zu Madeleine: «Der Schlaf ist der Weg, der uns zur Suppe des nächsten Tages führt.»
Madeleine schlief unten, denn das Treppensteigen war ihr beschwerlich geworden. Die anderen Zimmer befanden sich im oberen Stockwerk. Nathalie sah Markus an: «So wird sie uns nicht stören.» Das konnte nun zweierlei heißen: sexuelle Andeutung oder die schlichte pragmatische Ansage, dass sie morgen früh in Ruhe ausschlafen konnten? Markus zerbrach sich besser nicht den Kopf. Ob er mit ihr schlafen würde, ja oder nein? Natürlich begehrte er sie, aber er sah ein, dass er noch nicht einmal daran denken durfte, während er diese Treppe hochstieg. Oben angekommen, fiel ihm als Erstes auf, wie niedrig die Decke war. Das war bereits das dritte Mal an diesem Abend, dass er sich beengt fühlte, nach den verschlungenen Wegen, die sie im Auto zurückgelegt hatten und dem matschigen Pfad, der um das Haus herumgeführt hatte. Von dem wundersamen Flur gingen mehrere Türen ab, hinter denen wohl lauter Zimmer lagen. Wortlos ging Nathalie einmal hin und her. Es gab hier oben keinen Strom. Sie zündete zwei Kerzen an, die auf einem kleinen Tischchen standen. Ihr Gesicht wurde orangefarben, aber eher Sonnenauf- als Sonnenuntergang. Auch sie war unschlüssig, extrem unschlüssig. Ihr war klar, es lag an ihr, eine Entscheidung zu treffen. Sie schaute in die Flamme, mit einem tiefen Blick. Und dann öffnete sie eine Tür.
112
Charles schloss die Tür. Er war außer sich, er hatte sich so weit von sich selbst entfernt, dass er einem Außerirdischen hätte begegnen können. Sein Gesicht schmerzte von den Hieben, die er im Tagesverlauf eingesteckt hatte. Ihm war deutlich bewusst, dass er sich schrecklich verhalten hatte, dass viel für ihn auf dem Spiel stand, sollte man in der schwedischen Zentrale Kenntnis davon erhalten, dass er einen Mitarbeiter aus persönlichen Gründen hatte versetzen wollen. Aber na ja, die Gefahr, dass die Sache aufflog, war gering. Er war sich sicher, dass die beiden nie wieder auftauchen würden. Die Umstände ihrer Flucht rochen nach etwas Endgültigem. Und ebendas verletzte ihn wohl am meisten. Dass er Nathalie nie wiedersehen würde. Alles seine Schuld. Er hatte sich wie ein Irrer aufgeführt, was er sich selbst furchtbar übel nahm. Ihr nur einen Augenblick gegenüberstehen, um zu versuchen, sie um Verzeihung zu bitten, das dick Aufgetragene wieder abzutragen. Endlich die richtigen Worte finden, die er so lange gesucht hatte. In einer Welt leben, in der es noch die Chance gab, dass Nathalie ihn eines Tages lieben würde, in einer Welt, auf der alle da gewesenen Gefühle gelöscht werden würden und auf der er ihr ein zweites Mal zum ersten Mal begegnen könnte.
Nun ging er ins Wohnzimmer. Und da bot sich ihm der unvermeidliche Anblick, seine Frau, die auf dem Sofa lag. Ihm kam die abendliche Szene vor, als betrete er ein Museum, in dem ein einziges Bild hängt.
«Na du?», wisperte er.
«Na?»
«Hast du dir gar keine Sorgen gemacht?»
«Weswegen?»
«Wegen vergangener Nacht.»
«Äh nein … Was war denn vergangene Nacht?»
Laurence hatte ihren Kopf kaum bewegt. Charles hatte mit dem Nacken seiner Frau gesprochen. Er realisierte, dass sie seine Abwesenheit vergangene Nacht nicht einmal bemerkt hatte. Dass zwischen ihm und dem Nichts keinerlei Unterschied bestand. Ein Abgrund tat
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