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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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eine zur Maske erstarrte Wut, die jeglichen erkennbaren Ausdruck kaschierte. Dennoch kam er auf ihn zu, ganz langsam, aber ungemein entschlossen. Als werde er von einer unbekannten Macht getragen. Sodass Charles es unweigerlich mit der Angst zu tun bekam, mit gewaltiger Angst.
    «Da Sie jetzt nicht mehr mein Chef sind … kann ich ja …»
    Markus überließ es seiner Faust, den Satz zu Ende zu bringen. Es war das erste Mal, dass er jemandem einen Haken versetzte. Und er bedauerte, dass er das nicht schon eher getan hatte. Dass er zu oft zu Worten gegriffen hatte, um Situationen zu bereinigen.
    «Bei Ihnen ist wohl ’ne Schraube locker! Sie spinnen doch!», schrie Charles.
    Markus knöpfte sich ihn erneut vor und holte zu einem weiteren Schlag aus. Verängstigt wich Charles zurück. Er kauerte in einer Ecke seines Büros. Und nachdem Markus gegangen war, verharrte er noch geraume Zeit in dieser Stellung.

 
105
    Was im Leben des Muhammad Ali am 29. Oktober 1960 geschah
    Er gewann in Louisville seinen ersten Profiboxkampf gegen Tunney Hunsaker nach Punkten.

 
106
    Nachdem Nathalie in Lisieux aus dem Zug gestiegen war, nahm sie sich einen Mietwagen. Es war unheimlich lange her, dass sie zuletzt Auto gefahren war. Sie fürchtete, sich nicht mehr an die Abläufe zu erinnern. Das Wetter tat das seine dazu, es fing an zu regnen. Doch sie fühlte sich in dem Moment so matt, dass nichts und niemand sie erschrecken konnte. Immer schneller raste sie über die schmalen Landstraßen und sagte nebenbei der Tristesse
bonjour
. Der Regen behinderte ihre Sicht; streckenweise sah sie fast gar nichts mehr.
    Da geschah etwas. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, während sie so dahinfuhr. Vor ihr erschien die Szene, wie sie Markus grundlos und unmotiviert geküsst hatte. Sie hatte in dem Augenblick, als dieses Bild vor ihr auftauchte, nicht an ihn gedacht. Weit gefehlt. Es war einfach plötzlich da gewesen. Sie begann, sich ihre gemeinsam verbrachten Momente ins Gedächtnis zu rufen. Während sie immer noch weiterfuhr, tat es ihr allmählich leid, dass sie ihm nichts gesagt hatte, dass sie so mir nichts, dir nichts davongefahren war. Sie hatte keine Ahnung, warum sie daran gar nicht gedacht hatte. Sie hatte eben Hals über Kopf die Beine unter den Arm genommen. Es war wohl zum ersten Mal vorgekommen, dass sie das Büro auf diese Art verlassen hatte. Ihr war klar, sie würde niemals dorthin zurückkehren, ein Kapitel ihres Lebens war hiermit abgeschlossen. Zeit, über die Landstraßen zu tuckern. Sie beschloss dennoch, an einer Tankstelle zu halten. Sie stieg aus dem Wagen und sah sich um. Die Gegend sagte ihr nichts. Wahrscheinlich hatte sie sich verfahren. Es wurde dunkel, alles schien wie ausgestorben. Und der Regen vollendete das Triptychon dieses klassischen Bilds der Verzweiflung. Sie schickte Markus eine SMS. Bloß um ihm mitzuteilen, wo sie war. Zwei Minuten später erhielt sie eine SMS zurück: «Komme sofort. Steige in den erstbesten Zug. Bin gleich dort. Hoffe, du bist vor Ort.» Und dann kam gleich eine zweite Nachricht: «Schön, wie sich das alles reimt.»

 
107
    Auszug aus der Novelle

Der Kuss
von Guy de Maupassant
    «Weißt du, woher unsere wirkliche Macht rührt? Vom Kuss, vom Kuss allein! (…) Dennoch ist der Kuss nur ein Vorwort.»

 
108
    Markus sprang aus dem Zug. Auch er war mir nichts, dir nichts abgefahren, ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen. Sie würden sich wie zwei Flüchtlinge gegenüberstehen. Er sah sie reglos am anderen Ende der Bahnhofshalle stehen. Bedächtig begann er, auf sie zuzugehen, etwa so wie in einem Film. Man konnte sich bequem die Musik zu dieser Szene vorstellen. Oder auch Stille. Ja, es sollte Stille herrschen. Nur das Geräusch ihres Atems. Man könnte fast die Trostlosigkeit der Kulisse übersehen. Salvador Dalí hätte aus dem Bahnhof in Lisieux niemals Inspiration geschöpft. Er war kahl und nüchtern. Markus entdeckte ein Plakat, das auf einMuseum zu Ehren von Theresia von Lisieux hinwies. Er ging auf Nathalie zu und dachte: «Sieh an, schon witzig, und ich hab immer gedacht, Lisieux ist der Familienname …» Ja, das dachte er wirklich. Und Nathalie stand ganz dicht bei ihm. Mit diesem Mund, der ihn geküsst hatte. Doch ihr Gesicht war verschlossen. Es glich dem Bahnhof von Lisieux.
    Sie gingen zum Auto. Nathalie nahm auf der Fahrerseite Platz, und Markus setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie ließ den Motor an. Sie hatten immer noch kein Wort gesprochen. Sie waren wie

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