Nathalie küsst
Liegestellung anzuschließen. Sie fuhr also mit ihren Eltern nach Hause. Ihre Mutter machte ihr eine Fleischbrühe, die sie nicht hinunterbekam. Sie nahm noch einmal zwei Tabletten und fiel aufs Bett. Auf das Bett ihres alten Kinderzimmers. Noch am Morgen war sie eine Frau gewesen. Und nun schlief sie ein wie ein kleines Mädchen.
15
Bemerkungen, die François gemacht haben könnte, bevor er laufen ging
Ich liebe dich.
Ich bete dich an.
Erst der Sport, dann das Vergnügen.
Was essen wir heute Abend?
Viel Spaß beim Lesen, Schatz.
Ich freu mich schon, wenn ich wieder da bin.
Ich hab nicht vor, mich über den Haufen fahren zu lassen.
Wir müssen echt mal Bernard und Nicole zum Abendessen einladen.
Vielleicht sollte ich doch auch mal ein Buch lesen.
Heute werd ich in erster Linie meine Wadenmuskulatur trainieren.
Heute Abend machen wir ein Kind.
16
Ein paar Tage später war er tot. Die Beruhigungsmittel machten Nathalie benommen, sie befand sich in einem deliriumsartigen Zustand. Ununterbrochen musste sie an diesen letzten gemeinsamen Moment denken. Das war doch aberwitzig. Wie konnte ein solches Glück einfach so in Stücke brechen? Sich mit dem lächerlichen Bild eines Mannes, der durchs Wohnzimmer hopst, in nichts auflösen. Und diese letzten Worte, die er ihr zugeflüstert hatte. Nie würde sie sich ihrer entsinnen können. Vielleicht hatte er ihr einfach ins Genick gepustet. Als er die Tür hinter sich schloss, war er sicherlich schon ein Phantom. In menschlicher Gestalt zwar, aber ein Phantom, das nichts als Stille schafft, denn der Tod hat bereits Einzug gehalten.
Alle waren sie zur Beerdigung gekommen. In die Gegend, in der François seine Kindheit verbracht hatte. Ihr kam der Gedanke, dass er sich über dieses Gewühl gefreut hätte. Ach was, es war absurd, so etwas zu denken. Wie sollte sich ein Toter über irgendetwas freuen können? Er verwest gerade in einer Holzkiste: Wie soll er sich freuen? Als sie, von Angehörigen umringt, hinter dem Sarg herschritt, streifte Nathalie noch ein anderer Gedanke: Das sind die gleichen Gäste wie bei unserer Hochzeit. Ja, sie sind alle da. Genau die gleichen.Man trifft sich ein paar Jahre später wieder, und der ein oder andere war bestimmt im gleichen Outfit erschienen. Sie zogen ihren einzigen dunklen Anzug hervor, der für Glück und Unglück gleichermaßen galt. Der einzige Unterschied: das Wetter. Diesmal schien die Sonne, es konnte einem fast warm werden. Ungeheuerlich, es war Februar. Die Sonne brannte gnadenlos herunter. Und Nathalie, die der Sonne ins Gesicht sah, ließ sich von ihr blenden, ein Hof aus kaltem Licht verschleierte ihren Blick.
Er sank in die Grube, und das war’s.
Nach der Beisetzung war Nathalies einziges Verlangen, allein zu sein. Sie wollte nicht in die Wohnung ihrer Eltern zurück. Wollte keine mitleidsvollen Blicke mehr ernten. Sie wünschte, sie hätte sich verkriechen, sich von der Außenwelt abschotten, sich in ein Grab zurückziehen können. Freunde fuhren sie mit dem Auto nach Hause. Keiner brachte unterwegs ein Wort heraus. Es kam der Vorschlag, ein bisschen Musik anzumachen. Doch Nathalie bat den Fahrer sehr schnell, sie wieder abzustellen. Nicht auszuhalten. Bei jeder Melodie fiel ihr François ein. Bei jeder Note spürte sie den Widerhall einer Erinnerung, eines Details, eines Lachens. Es würde schrecklich werden, das wurde ihr nun bewusst. In den sieben Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatte er genug Zeit gehabt, sich überall festzusetzen, bei jedem Atemzug eine Spur zu hinterlassen. Ihr wurde klar, dass es nichts gab, was sie seinen Tod vergessen machen würde.
Die Freunde halfen ihr, ihre Sachen nach oben zu bringen. Aber sie wollte sie nicht hereinbitten.
«Bitte geht jetzt, ich bin müde.»
«Aber du versprichst, dass du uns anrufst, wenn du irgendwas brauchst?»
«Ja.»
«Versprochen?»
«Ja, versprochen.»
Sie küsste ihre Freunde auf die Wange und dankte ihnen. Das Alleinsein war eine Erleichterung. Andere hätten in diesem Moment die Einsamkeit nicht ertragen. Nathalie hatte sich danach gesehnt. Und dennoch setzte sie so der Entsetzlichkeit der Situation die Krone auf. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie alles unverändert vorfand. Genau wie zuvor. Nichts hatte sich bewegt. Die Decke lag noch immer auf dem Sofa. Die Teekanne stand auf dem kleinen Tischchen davor, darauf lag das Buch, das sie gelesen hatte. Am meisten traf sie der Anblick des Lesezeichens, das das Buch gleichsam in zwei
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