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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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davon gehört?»
    «Wovon?»
    «Kommen Sie …»
    Zusammen verbrachten Jean-Michel und Charlotte den Tag auf dem Kanapee und schauten sich immer und immer wieder die Bilder der Flugzeuge an, die in die Türme einschlugen. Diesen historischen Moment gemeinsam zu erleben, schweißte die beiden zwangsläufig zusammen. Sie waren unzertrennlich geworden, hatten gar ein mehrere Monate andauerndes Verhältnis miteinander, bevor sie zu dem Schluss kamen, dass sie eher als Freunde denn als Liebende füreinander geschaffen waren.
    Kurze Zeit darauf eröffnete Jean-Michel seinen eigenen Blumenlieferservice und bot Charlotte an, bei ihm anzufangen. Von da an bestand ihr Leben darin, Sträuße zu binden. An jenem Sonntag, an dem das Unglück geschah, hatte Jean-Michel schon alles vorbereitet. Ein Kunde wollte um die Hand seiner Verlobten anhalten. Mit dem Erhalt der Blumen würde sie den Antrag verstehen, es handelte sich um so etwas wie ein verschlüsseltes Zeichen. Der Strauß musste unbedingt an diesem Sonntag, dem Jahrestag ihrer ersten Begegnung, zugestellt werden. Gerade als Jean-Michel hatte losfahrenwollen, kam ein Anruf von seiner Mutter: Sein Großvater war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Charlotte erklärte sich bereit, sich um den Strauß zu kümmern. Sie fuhr ganz gern mit dem Lieferwagen herum. Besonders wenn sie nur eine einzige Bestellung auszufahren hatte, wenn sie sich nicht beeilen musste. Ihre Gedanken waren bei dem Liebespaar und bei der Funktion, die sie in dessen Leben einnahm: Sie spielte die Rolle eines anonymen, aber ausschlaggebenden Faktors. An all dies dachte sie und an andere Dinge, und plötzlich rannte da ein Mann einfach über die Straße. Als sie bremste, war es zu spät.
    Nach dem Unfall war Charlotte völlig am Boden zerstört. Ein Psychologe mühte sich, sie so weit zu bringen, über die Sache zu sprechen, damit sie den Schock so schnell wie möglich überwand und das Trauma nicht ins Unterbewusstsein durchsickerte. Sie stellte sich ziemlich bald die Frage: Soll ich mit der Witwe in Kontakt treten? Letztlich kam sie zu dem Schluss, dass das sinnlos wäre. Was hätte es schon zu sagen gegeben? «Ich möchte mich entschuldigen.» Entschuldigt man sich in einem solchen Fall? Allenfalls hätte sie angefügt: «Ganz schön beschissen von Ihrem Mann, blind über die Straße zu rennen, das ruiniert auch mein Leben, sind Sie sich dessen überhaupt bewusst? Glauben Sie, das Leben ist einfach für jemanden, der einen Menschen überfahren hat?» Zuweilen hatte sie regelrechte Schübe, empfand einen Hass auf diesen Mann, auf die eigenen widersprüchlichen Gefühle. Doch die meiste Zeit schwieg sie. Saß leer da. Die Stille dieser Stunden einte sie und Nathalie. Mit gänzlich betäubtemWillen trieben sie beide dahin. In den Wochen, in denen Charlotte sich langsam auf dem Wege der Besserung befand, musste sie ständig unwillkürlich an die Blumen denken, die sie an jenem verhängnisvollen Tag hätte ausliefern sollen. Dieser verwaiste Strauß verkörperte das Bild der verunglückten Zeit. Unaufhörlich schob sich das Ereignis in Zeitlupe ins Blickfeld, wieder und wieder das Geräusch des Aufpralls, und im Mittelpunkt standen immerzu die Blumen, die ihr einen Schleier über die Augen legten. Zwanghaft kehrten ihre Gedanken zu den Blumen zurück, die sich auf ihren Tagen wie ein Leichentuch ausbreiteten.
    Jean-Michel war in großer Sorge um ihren Zustand. Er herrschte sie an, sie solle wieder arbeiten gehen. Das war nur einer von zahllosen Versuchen, sie wachzurütteln. Ein von Erfolg gekrönter Versuch, denn sie hob den Kopf und nickte, wie es kleine Mädchen manchmal tun, wenn sie nach einer begangenen Dummheit versprechen, wieder brav zu sein. Im Grunde wusste sie ja, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Dass es weitergehen musste. Unabhängig vom plötzlichen Ausbruch ihres Kompagnons. Alles wird werden wie früher, dachte sich Charlotte, von einem Schock erholt man sich auch wieder. Von wegen, nichts wurde wie früher. Der Rhythmus ihrer Tage war irgendwie jäh gesprengt worden. Dieser Sonntag war allgegenwärtig: Er lauerte in jedem Montag und in jedem Donnerstag. Und er überdauerte den Freitag oder den Dienstag. Dieser Sonntag schien nie enden zu wollen, er gebärdete sich wie eine verfluchte Ewigkeit und hatte auch die Zukunft fest im Griff. Charlotte lächelte, Charlotte aß,doch auf Charlottes Gesicht lag ein dunkler Schatten. Er verdeckte ein oder zwei Buchstaben ihres Vornamens. Ein Gedanke

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