Nathalie küsst
Teile spaltete. Den ersten Teil hatte sie gelesen, als François noch am Leben war. Und auf Seite 321 war er gestorben. Was sollte sie jetzt tun? Kann man eine Lektüre, die durch den Tod des Ehemannes unterbrochen wurde, fortsetzen?
17
Diejenigen, die behaupten, allein sein zu wollen, versteht niemand. Selbstgewählte Einsamkeit gilt naturgemäß als morbider Instinkt. Sosehr Nathalie sich auch bemühte, alle Leute abzuwiegeln, sie bestanden darauf, sie besuchen zu kommen. Was darauf hinauslief, dass ihr keine andere Wahl blieb, als sich mitzuteilen. Doch sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Ihr kam es so vor, als müsste sie mit allem noch einmal bei null anfangen, dazu gehörte auch das Sprechenlernen. Vielleicht taten sie ja im Grunde alle gut daran, sie zu ein wenig Geselligkeit zu nötigen, dazu, sich zu waschen, anzuziehen und Besuche zu empfangen. Ihre Bekannten wechselten sich ab, das lag erschreckend klar auf der Hand. Sie stellte sich so etwas Ähnliches wie einen Krisenstab vor, der die Katastrophe verwaltete, dort arbeitete eine tatkräftige Sekretärin, bestimmt ihre Mutter, die alles in eine riesige Übersicht eintrug und geschickt die Besuche von Freunden und Familienmitgliedern variierte. Sie konnte hören, wie die Mitglieder dieses Hilfstrupps untereinander kommunizierten und ihre leisesten Regungen kommentierten. «Nun, wie ist ihr Zustand?», «Was treibt sie?», «Was isst sie?». Ihr schien, als sei sie plötzlich der Nabel der Welt, wo ihre Welt doch aufgehört hatte zu existieren.
Einer der häufigsten Besucher war Charles. Er schaute jeden zweiten oder dritten Tag vorbei. Eine Art,
ihre Verbindung zum Berufsleben aufrechtzuerhalten
, wie er es nannte. Er berichtete ihr von Entwicklungsprozessen laufender Geschäftsvorgänge, und sie starrte ihn an wie einen Geistesgestörten. Was ging es sie an, wenn der chinesische Außenhandel gerade in einer Krise steckte? Würden die Chinesen ihr ihren Mann zurückbringen? Nein. Na schön. Dann war das ja vollkommen uninteressant. Charles merkte durchaus, dass sie ihm nicht zuhörte, doch er wusste, dass er nach und nach eine Wirkung erzielen würde. Ähnlich wie bei einer Infusion flößte er der am Tropf hängenden Nathalie kleine Dosen der Wirklichkeit ein. Auf dass China, und auch Schweden, sich wieder in Nathalies Gesichtskreis einfügten. Er setzte sich ganz nah zu ihr:
«Du kannst wieder anfangen, wann immer du willst. Du sollst wissen, dass die ganze Firma hinter dir steht.»
«Vielen Dank, das ist sehr freundlich.»
«Und du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.»
«Danke.»
«Dass du dich echt auf mich verlassen kannst.»
Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso er sie seit dem Tod ihres Mannes duzte. Was hatte das wohl zu bedeuten? Doch warum einen tieferen Sinn hinter diesem Wandel suchen? Ihr fehlte die Kraft dazu. Vielleicht spürte er, dass er irgendwie Verantwortung trug; Verantwortung dafür zu beweisen, dass es einen ganzen Lebensbereich von ihr gab, der nicht wankte. Aber trotzdem war diese Duzerei eigenartig. Andererseits auch wieder nicht, es gibt Worte, die,wenn man sich siezt, unaussprechlich sind. Worte des Trosts. Die Distanz muss aufgehoben werden, damit man solche Dinge sagen kann, man muss miteinander vertraut sein. Ihrer Ansicht nach schaute er ein bisschen zu oft vorbei. Sie versuchte, ihm das zu verstehen zu geben. Doch man hört nicht auf Menschen, die weinen. Er war jederzeit zur Stelle; und er wurde aufdringlich. Bei einer abendlichen Unterhaltung hatte er einmal seine Hand auf ihr Knie gelegt. Sie hatte ihn zunächst gewähren lassen, dachte sich aber, dass er es erheblich an Einfühlsamkeit fehlen ließ. Wollte er sich ihren Kummer zunutze machen, um François’ Platz einzunehmen? Wollte er anstelle des Toten mit ihr auf Reisen gehen? Womöglich hatte er ihr schlicht begreiflich machen wollen, dass er da war, falls sie Zuneigung brauchte. Falls sie mit ihm schlafen wollte. Wenn man mit dem Tod in Berührung kommt, geschieht es öfter, dass es einen in sexuelle Sphären treibt. In dem Fall jedoch nicht wirklich. Ein anderer Mann kam für sie nicht infrage. Also hatte sie Charles’ Hand zurückgeschoben, der gemerkt hatte, dass er wohl zu weit gegangen war.
«Ich werde bald wieder anfangen zu arbeiten», meinte sie.
Was dieses bald heißen sollte, da war sie sich nicht so sicher.
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Warum Roman Polanski den Roman
Tess von den d’Urbervilles: Eine reine Frau
von Thomas Hardy
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