Nathalie küsst
verfilmt hat
Es ist nicht wirklich so, dass Polanski beim Lesen des Romans der Tod in die Quere gekommen wäre. Doch bevor Sharon Tate, Polanskis Frau, von der Manson Family auf brutale Weise niedergemetzelt wurde, hatte sie ihren Mann auf dieses Buch aufmerksam gemacht und zu ihm gesagt, es würde sich hervorragend für eine Verfilmung eignen. Der etwa zehn Jahre nach dem Mord entstandene Film, in dem Nastassja Kinski die Hauptrolle spielt, ist Sharon Tate gewidmet.
19
Nathalie und François hatten nicht sofort Kinder gewollt. Kinder waren ein Projekt für die Zukunft. Für eine Zukunft, die sie nun nicht mehr haben würden. Ihr gemeinsames Kind würde also eine reine Vorstellung bleiben. Wenn man gelegentlich an all die toten Künstler denkt, fragt man sich da nicht auch, welche Werke sie geschaffen hätten, wenn sienicht gestorben wären? Was hätte John Lennon 1992 komponiert, wenn er nicht 1980 gestorben wäre? Genauso: Wie hätte das Leben dieses Kindes ausgesehen, das es nie geben würde? Man müsste sich all die Schicksale vor Augen führen, die scheitern, bevor sie an den Strand der Existenz gespült werden.
Über Wochen hatte sie dieser ans Verrückte grenzende Gedanke getragen: den Tod zu leugnen. Sich den Alltag weiterhin so zurechtzulegen, als sei François noch da. Wenn sie morgens spazieren ging, war sie imstande, auf dem Wohnzimmertisch eine Nachricht für ihn zu hinterlassen. Sie ging stundenlang spazieren, mit dem alleinigen Ziel, sich in der Menge aufzulösen. Ab und zu ging sie auch in Kirchen, sie, die keinen Glauben hatte. Und die sich sicher war, dass sie nie einen Glauben haben würde. Dass es Leute gab, die sich in die Religion flüchteten, die nach einem einschneidenden Unglück einen Glauben haben konnten, war für sie nicht nachvollziehbar. Dennoch, wenn sie sich mitten am Nachmittag zwischen all den leeren Stühlen niederließ, empfand sie es als tröstlich, an diesem Ort sein zu dürfen. Er verschaffte ihr ein klein wenig Linderung, und tatsächlich, einen Augenblick lang glaubte sie, die Wärme Christi zu spüren. Sie fiel auf die Knie und glich einer Heiligen, die den Teufel im Herzen trägt.
Mitunter kehrte sie an den Ort ihrer ersten Begegnung zurück. Zu diesem Trottoir, das sie sieben Jahre zuvor, als sie ihn noch nicht gekannt hatte, entlanggelaufen war. Sie dachte:«Und wenn mich jetzt jemand ansprechen würde, wie würde ich reagieren?» Doch niemand störte sie in ihrer Andacht.
Sie ging auch zu der Stelle, an der François überfahren worden war. Wo er sich, als er mit seinen Shorts und den Kopfhörern über die Straße laufen wollte, so ungeschickt angestellt hatte. Das allerletzte Mal, dass er sich ungeschickt angestellt hatte. Sie baute sich am Fahrbahnrand auf und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Warum beging sie nicht an der gleichen Stelle Selbstmord? Warum vermengte sie nicht ihrer beider Blut in einer letzten morbiden Art von Vereinigung? Lange stand sie da, zögerte, während die Tränen ihr das Gesicht herunterliefen. Vor allen Dingen in der ersten Zeit nach der Beerdigung kehrte sie oft an den Unglücksort zurück. Woher der Drang kam, sich selbst derart wehzutun, wusste sie nicht. Es war hirnrissig, da herumzustehen, sich die Grausamkeit des Aufpralls vorzustellen und so den Tod des geliebten Mannes greifbar machen zu wollen. Vielleicht hatte sie im Grunde keine andere Wahl? Woher weiß man, wie man nach einer solchen Tragödie weiterlebt? Es gibt keine Patentrezepte. Ein jeder versucht, die Signale zu entziffern, die ihm sein Körper sendet. Nathalie stillte ihr Bedürfnis, weinend am Straßenrand zu stehen und in ihren Tränen unterzugehen.
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Diskografie von John Lennon, wäre er nicht 1980 ermordet worden
Still Yoko
(1982)
Yesterday and Tomorrow
(1987)
Berlin
(1990)
Titanic Soundtrack
(1994)
Revival – The Beatles
(1999)
21
Das Leben der Charlotte Baron seit dem Tag, an dem sie François überfahren hat
Hätte es die Anschläge vom 11. September 2001 nicht gegeben, wäre Charlotte sicherlich nicht Blumenverkäuferin geworden. Am 11. September hatte sie Geburtstag. Ihr Vater,der sich gerade auf einer Reise durch China befand, hatte ihr Blumen bringen lassen. Im Unwissen, dass soeben die eigene Epoche zusammenstürzte, stieg Jean-Michel die Treppenstufen hoch. Er läutete und erblickte Charlotte, deren Gesicht kreidebleich war. Sie brachte erst keinen Ton heraus. Als sie ihm die Blumen abnahm, fragte sie:
«Haben Sie schon
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