Nathan der Weise
»gehorsam« zu sein, um sich des Ringes würdig zu erweisen. Offensichtlich fehlt dem Vater auch der Durchblick. Er hat nicht die Bedeutung des Ringes im Blick, sondern die Verletzlichkeit der Söhne. Er entzieht sich seiner ursprünglichen Aufgabe, lässt zwei weitere Ringe machen und ist am Ende selbst nicht mehr in der Lage, »seinen Musterring« (1951) von den anderen zu unterscheiden. Vielleicht fehlt ihm selbst die Zuversicht in »die geheime Kraft« (1915); über irgendwelche Bemühungen, sich »vor Gott und Menschen angenehm zu machen« (1915 f.) wird nichts gesagt. Die drei Söhne, die je einzeln nichts auf ihren »lieben Vater« (2002) kommen lassen, erkennen, dass etwas an der Ringübergabe nicht stimmt, verdächtigen sich aber gegenseitig, nicht den Vater, »des falschen Spiels« (2005) und fordern einen Rechtsspruch vor Gericht. Sie vertrauen darauf, dass vor Gericht ein Sachverhalt, der sich in der Vergangenheit ereignete, aufgeklärt werden könne. Dazu aber sieht sich der Richter nicht in der Lage.
In diesem Teil der Erzählung wird berücksichtigt, dass die drei Religionen zwar in ihrem Brauchtum, aber nicht »von Seiten ihrer Gründe« (1974) zu unterscheiden seien. Eine rückwärts gewandte Auseinandersetzung, die vor einem Richter, vor einer wissenschaftlichen Institution, vor einer breiten Öffentlichkeit die alleinige Wahrheit einer Religion nachweisen möchte, ist sinnlos; eine rückwärts gewandte Beweisführung ist nicht möglich.
Der unter den Brüdern ausgebrochene Streit ist ein sicheres Anzeichen, dass »der rechte Ring [...] nicht erweislich« (1662) ist, dass er »vermutlich [...] verloren« (2026) ging und dass die drei nun als »betrogene Betrüger« (2024) dastehen. Keiner von ihnen scheint »Zuversicht« (1917) in die Kraft des Steins zu haben und keiner wendet große Mühe auf, »vor Gott und Menschen angenehm« (1915) zu werden.
Damit ist zugleich Kritik an der Haltung und an den Handlungen der Glaubensgemeinschaften und an den einzelnen Gläubigen geübt und ein Ausweg aus dem Dilemma aufgezeigt. Der Beweis für die Wahrheit der Religion kann nicht nach rückwärts, sondern er muss nach vorn geführt werden. Der Richter sagt sehr deutlich, wie der Beweis zu führen sei:
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott,
Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre,
Sie wiederum vor diesen Stuhl. (2041 ff.)
Diese Empfehlung, die große Ähnlichkeit mit dem von Kant formulierten Kategorischen Imperativ hat, bietet die Möglichkeit, »vor Gott und Menschen angenehm zu machen« (1915). Wichtiger als die »Ergebenheit in Gott« (2047) scheint dem Richter das »Wohltun« (2046) – »mit Sanftmut« (2045), »mit herzlicher Verträglichkeit« (2046) und »von Vorurteilen frei« (2042) – zu sein. Erst wenn sich die Grundsätze solchen Handelns verbreitet haben, besteht Aussicht, dass sich »der Steine Kräfte [...] äußern« (2049).
Unversehens hat sich die Frage nach der wahren Religion verschoben. Nathan behandelt die Frage nicht als Wissensfrage. Er antwortet Saladin, als ob dieser gefragt hätte »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?«, nicht aber, als hätte er gefragt »Was kann ich wissen?«. Statt des vielleicht erwarteten theoretischen Beweises stellt Nathan eine ethisch begründete Forderung. Die »wahre Religion« erweist ihre Wahrheit in der Praxis, nicht in der Theorie, wie sich ein »wahrer Freund« durch sein Handeln, nicht durch logische Beweisführung zu erkennen gibt.
Die Konsequenz: Gottes »Vorsicht« und das Handeln der Menschen
Mit der Ring-Parabel ist die Gesamthandlung des Stückes eng verknüpft. Das Stück, das räumlich an einem bestimmten Ort und zeitlich zu einem fast auf den Tag bestimmbaren Datum spielt, ist zum Lehrstück geworden, das eine besondere Art der Reaktion erwartet.
Der oberflächliche Zuschauer und der schnelle Leser werden sich vermutlich an der Fülle der vermeintlichen Zufälle und Unwahrscheinlichkeiten stoßen. Sie werden noch hinnehmen, dass ein junger Mann bei einem Brand zu Hilfe eilt und die Bewohnerin des Hauses rettet. Dass sich dann aber herausstellt, dass die junge Frau seine Schwester ist, von deren
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