Nathan der Weise
überzeugt. Allerdings war es notwendig, dem Sultan den Hinweis zu geben, dass er die Analogieschlüsse von dem Erzählten zu dem Gemeinten selbst ziehen müsse: »Der rechte Ring«, heißt es, »war [...] fast so unerweislich, als uns itzt – der rechte Glaube« (1962 ff.).
Bei Boccaccio erkennt Saladin, »daß der Jude auf die klügste Weise den Schlingen ausgewichen war, die er [...] gelegt hatte« 20 ; er gibt das unehrliche Spiel auf und bittet offen um einen Kredit, den er auch erhält. Lessings Saladin scheint sein oder seiner Schwester ursprüngliches Vorhaben ganz vergessen zu haben. Er ist ganz ehrlich an dem Problem und seiner Lösung interessiert, beteiligt sich ohne Vorbehalt an dem Diskurs und wird zum kritischen Gesprächspartner. Er will nicht mehr Wahrheit entgegennehmen, sondern er beteiligt sich an der Suche nach Wahrheit.
Was sich zunächst so einfach als Familien- und Erbgeschichte anhört, erweist sich als hochkompliziert, wenn man das »Geschichtchen« (1905 und 1907) auf die Frage bezieht, welche der »drei Religionen [...] die wahre« (1843 f.) sei. Dass die drei Ringe, die der »Vater [...] von drei Söhnen« (1930) weitergibt, für die drei monotheistischen und in Jerusalem aufeinander treffenden Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam stehen, ist noch unmittelbar einsichtig. Diese drei Ringe gehen auf einen einzigen zurück, der folglich für eine ursprüngliche Religion steht. Die drei Religionen haben sich also, so muss geschlossen werden, entwickelt.
Der erste und zunächst einzige Ring stammte »aus lieber Hand« (1913) und war »von unschätzbarem Wert« (1912). Auf welche Weise der Ring an den »Mann in Osten« (1911) gekommen ist, wird nicht gesagt. Allerdings wird betont, dass die Gabe ein Beweis von Güte und Liebe war. Über den Zeitpunkt der Übergabe wird wiederum nichts gesagt; denn schon der erstbekannte Besitzer lebte »vor grauen Jahren« (1911). Als Leser oder Zuhörer zieht man den Schluss, dass ein gütiger und »lieber« Gott Ursprung der ersten und einzigen Religion war, dass man über den Zeitpunkt der Stiftung aber nichts wisse.
Wichtigstes Attribut des Ringes ist der eingelegte »Stein«, »ein Opal, der hundert schöne Farben spielte« (1913). Die schöne Wirkung geht also von dem Attribut aus. Mag der Ring selbst »von unschätzbarem Wert« (1912) sein, so steckt die Kraft in dem »Stein« (1913). Die Vorstellung, dass edle Steine eine magische Kraft enthalten, ist bis in die Neuzeit weit verbreitet; doch die »geheime Kraft« (1915), die dieser Opal entwickelt, ist von besonderer Art. Er hat nämlich die »geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug« (1915 ff.). Der Außenstehende weiß nichts von der Kraft, er kennt nicht den Bezug von Ursache und Wirkung: Die Kraft ist geheim. Sehr deutlich erkennt man die Wirkung allerdings am Ergebnis. Derjenige, an dem sich die Wirkung vollzogen hat, ist »angenehm [...] vor Gott und Menschen« (1915 f.). Die Wirkung erfolgt allerdings nicht automatisch; der Stein wirkt nur an dem und durch den, der »in dieser Zuversicht ihn trug« (1916 f.). Das Gedankenverhältnis zwischen diesen Aussagen lässt verschiedene Deutungen zu. Zu fragen ist, ob der Ring rein zeitlich dann wirkt, sobald er in dieser Zuversicht getragen wird, oder ob er nur unter der Bedingung wirkt, dass der Träger des Rings die ganze Zuversicht auf den Ring setzt. Überträgt man das hier gebotene Bild auf die angesprochene Sache, so dürfte man zunächst schließen, dass Religion nicht als Wert an sich angesehen wird, sondern dass der Wert in der Wirkung liegt, die von ihr ausgeht. In der Religion ruht die »Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen« (1915 f.). Die Güte und Liebe dessen, aus dessen »lieber Hand« (1913) die Religion stammt, soll verbreitet werden. Die gute Wirkung soll den guten Ursprung erkennen lassen. Die »Zuversicht« (1917) in die Kraft des Ringes, der Glaube also, ist Bedingung für die Möglichkeit, »vor Gott und Menschen angenehm« (1915 f.) zu werden. Der Besitz des Rings allein garantiert das noch nicht. Nicht einmal die Zuversicht, der Glaube allein, garantiert dies. Nur die Handlungen, die in dieser Zuversicht vollzogen werden, führen zu dem erstrebten Ziel.
Als nun in der langen Generationenfolge ein Vater drei Söhne hatte, »die alle drei ihm gleich gehorsam waren« (1931), treten gleich mehrere Probleme auf. Es fragt sich, ob es genügt,
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