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Nathan der Weise

Nathan der Weise

Titel: Nathan der Weise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Textausgabe + Lektüreschlüssel
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werden, in dem Behauptungen aufgestellt und geprüft, Begriffe geklärt und Argumentationen vorgetragen werden.
    Das Stück ist folglich lehrhaft, hat didaktischen Charakter, fordert zur Stellungnahme heraus. Der Zuschauer oder Leser soll mitdenken, kritisch abwägen und dann seine Schlüsse ziehen. Er soll nicht eine vorformulierte Wahrheit annehmen, sondern sich an der Wahrheitssuche beteiligen. Das Drama ist insofern Lehrstück, als es nicht in der dem Leser und Zuschauer vertrauten Gegenwart spielt, sondern an einem fernen Ort, der märchenhaft entrückt ist, der Modellcharakter hat. Dort ist ein weiser Mann Wortführer. Die dargestellte Kommunikationssituation ist ideal, da alle frei reden können und alle bereit sind, aufmerksam zuzuhören.
    Damit ist eine Situation hergestellt, die genau der entgegengesetzt ist, unter der Lessing in Braunschweig und Wolfenbüttel litt. Offene Diskussion, so scheint es, war nur im Spiel und auf dem Theater möglich.
Antwort Nathans auf die Frage Saladins: Die Ring-Parabel
    Mittelpunkt des Dramas ist – in mehrfachem Sinne – die Erzählung von den drei Ringen, die Lessing aus Giovanni Boccaccios
Dekameron
übernommen und für seine Belange umgearbeitet hat. Mit diesem »Märchen« (1890) reagiert Nathan auf die Frage des Sultans, »was für ein Glaube« ihm »am meisten eingeleuchtet« (1840 f.) habe, welche der in Jerusalem verbreiteten »Religionen [...] die wahre« (1844 f.) sei. Die Frage des Sultans, die kurze Reflexionsphase Nathans und die dann folgende Antwort bilden einen Szenenkomplex von drei Auftritten und machen die Mitte des dritten Aufzugs aus, also III,5–7. Inhaltlich wird hier die zentrale Frage verhandelt, die Lessing mit der Herausgabe der
Fragmente eines Ungenannten
angestoßen und für die er das Theater als Diskussionsforum gesucht hatte. Dabei geht es nicht nur darum, welcher »Glaube« (1840), welches »Gesetz« (1840), welche der »Religionen« (1845) »die wahre« (1846) sei, sondern auch um die grundsätzlichere Frage, was nämlich »Wahrheit« (1867) sei und was dem Menschen überhaupt zu wissen vergönnt sei.
    Nathan ist nicht ohne innere Vorbehalte beim Sultan erschienen, weiß er doch von Al-Hafi, dass den Herrscher Geldsorgen plagen und dass er als Jude einen schlechten Stand im Staatsverband hat. Tatsächlich hat Saladin – auf Veranlassung seiner Schwester – den reichen Juden mit dem Hintergedanken eingeladen, ihm eine Falle zu stellen und ihn so gefügig zu machen. Wenn er ihn als »den weisen Nathan« (1799) begrüßt, so schwingt in dieser Charakterisierung durchaus Ironie mit. Ob er es nach dem Vorgeplänkel mit der Frage nach der wahren Religion schon ernst meint oder ob das die hinterlistig geplante Frage ist, kann man »von außen« nicht entscheiden. Jedenfalls entspricht die Situation genau der, die Lessing bei Boccaccio vorfand; dort steht der Jude Melchisedech vor Saladin, der ihn »unter einem künstlichen Vorwand [...] zwingen [will], ihm zu Willen zu sein« 16 . Um die durchschaute Gefahr abzuwenden, erzählt Melchisedech die »Geschichte von den drei Ringen« 17 . Auch Nathan überlegt: »Sollt er auch wohl die Wahrheit nicht in Wahrheit fodern?« (1876 f.), entschließt sich dann, das »Märchen« (1890) zu erzählen – »Das kann mich retten!« (1887 f.) –, tritt aber schließlich ganz selbstbewusst vor den Sultan: »Möcht auch doch die ganze Welt uns hören« (1894). Solche Selbstgewissheit scheint dem Sultan suspekt; doch ist er vorerst bereit, sich ein »Geschichtchen« (1805 und 1807) anzuhören.
    Hier nun beginnt das, was erst vom Ende her Parabel genannt werden kann, was Nathan dem Publikum als Märchen und Saladin als Geschichtchen angekündigt hat. Lange Zeit hält Saladin das, was er hört, für ein »Märchen« (1856), wartet auf die Behandlung seines eigentlichen Problems und muss von Nathan darauf gestoßen werden, dass die gestellte Frage soeben zwar nicht direkt, aber indirekt durch eine Gleichniserzählung behandelt wurde. Erst im Rückblick versteht der Sultan, was er gehört hat, und gesteht: »Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muss verstummen« (1991). Die Parabel hat als gleichnishafte und deshalb lehrhafte Rede ihre Wirkung getan. Sie hat aufgeklärt; sie hat, wie es für eine Parabel charakteristisch ist, »im Besonderen das Allgemeine, im scheinbar Fremden das Eigene erkennen« 18 lassen; sie hat indirekt »für sittliche Ordnung oder Weltanschauung« 19 geworben und sie hat

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