Nathan der Weise
also nichts Ungewöhnliches, als er 1773 »Beiträge zur Geschichte und Literatur« ankündigte; ungewöhnlich war auch nicht, dass einige dieser Beiträge theologische Themen enthielten; ungewöhnlich war eher, dass die wichtigsten Stücke gar nicht aus der Wolfenbütteler Bibliothek stammten, sondern von dem Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus, der aber ungenannt blieb.
Einer der ersten Beiträge, die als
Fragmente eines Ungenannten
veröffentlicht wurden, trug den Titel
Von der Duldung der Deisten
. Als Deisten gaben sich solche Leute aus, die – im Gegensatz zu den Atheisten – an einen einzigen Gott als den letzten Grund aller Dinge glaubten, der aber nach Abschluss dieser Schöpfung keinen Einfluss mehrauf die Weltentwicklung nimmt. Wie die Welt durch die Naturgesetze gesteuert wird, so kann der Mensch nach Auffassung der Deisten mit Hilfe der Vernunft ein erträgliches Zusammenleben organisieren. Die Intention der genannten Abhandlung bestand darin, diese Deisten seitens der christlichen Kirchen zu tolerieren, da die wahre christliche Lehre nicht weit von den Anschauungen der Deisten entfernt sei. So heißt es in den Fragmenten: »Die reine Lehre Christi, welche aus seinem eigenen Mund geflossen ist [...], enthält nichts als eine vernünftige practische Religion«. 11 Dagegen hatten – so die These – »Glaubensbücher, Geheimnisse, Ceremonien und Glaubensformeln«, die erst später von der Kirche der reinen Lehre hinzugefügt wurden, einzig zur Folge, die verschiedenen Kirchen »unter einander zu verketzern«. 12
Diese Behauptungen zwangen die Theologen zur Stellungnahme. Grundsätzlich ging es um die Frage, ob die Glaubenssätze, die von der christlichen Kirche vermittelt werden, absolut wahr, d. h. unabhängig von Zeit und Ort richtig und verbindlich sind, oder ob Glaubenssätze auf Meinungen beruhen, die sich im Laufe der Zeit ändern können. Für Lessing stand fest, dass auch Religionen einem geschichtlichen Wandel unterworfen seien; seine Gegner gingen davon aus, dass ihr Glaube absolut wahr sei. Sie lassen sich als Rechtgläubige, als Orthodoxe (griech.
orthós
›gerade, aufrecht, recht, richtig‹; griech.
dóxa
›Meinung, Glaube‹; ›Ansehen, Ruf‹) bezeichnen. Die zentrale Streitfrage lautet also: Welches ist die »wahre Religion«? Zu diskutieren wäre, ob die Lehrsätze der christlichen Religion als absolut wahr angesehen werden können und – noch radikaler – ob das Erkenntnisvermögen des Menschen überhaupt bis zur absoluten Wahrheit vorstoßen könne.
Unter den verschiedenen Entgegnungen auf die Veröffentlichungen Lessings ragen die des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze hervor, da er nicht nur auf die Thesen und Argumente der Schriften eingeht, sondern auch Lessing als Person angreift und ihm das Recht bestreitet, sich in theologische Fragen einzumischen. Der Streit wurde in polemischen Schriften und Gegenschriften ausgetragen, bis der Herzog von Braunschweig in einer Resolution vom 17. August 1778 verfügte, es sei dem Hofrat Lessing nicht mehr gestattet, »daß er in Religionssachen, so wenig hier als auswärts, auch weder unter seinem noch anderen angenommenen Namen, ohne vorherige Genehmigung des Fürstl. Geheimen Ministerii ferner etwas drucken lassen möge« 13 .
Da die Zensur jedoch nur alle wissenschaftlichen und journalistischen Veröffentlichungen betraf, fand Lessing eine Möglichkeit, die Auseinandersetzung von seiner Seite aus weiterzuführen. Am 6. September 1778 schrieb er an Elise Reimarus, die Tochter des verstorbenen Autors der
Fragmente eines Ungenanntem
:
»Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen« (Brief vom 6. 9.1778). 14 Und: »Ich habe es [den
Nathan
] jetzt nur wieder vorgesucht, weil mir auf einmal beifiel, daß ich, nach einigen kleinen Veränderungen des Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen könne« (Brief vom 7.11.1778 an Karl Lessing). 15
Lessing bleibt also beim Thema, verfolgt weiter seine Intention, sucht weiter ein über die Fachgrenzen der Theologie hinausgehendes Publikum, wechselt lediglich den Schauplatz und die Sprachform, wenn er seine Gedanken jetzt in einem Drama hervorbringt statt in einem Zeitschriftenartikel, in einem Traktat oder in einer wissenschaftlichen oder philosophischen Abhandlung. Das Drama
Nathan der Weise
kann daher als Teil eines breit angelegten aufklärerischen Diskurses angesehen
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