Nathan der Weise
Existenz er nichts gewusst hat, muss jeden überraschen. Als völlig unrealistisch dürfte auch eingeschätzt werden, dass der außerehelich gezeugte Tempelritter von Europa zurück nach Jerusalem kommt und dort seinem Onkel, Sultan Saladin, dem Bruder seines leiblichen Vaters, vorgeführt wird. Die Liste der Unwahrscheinlichkeiten ist von beträchtlichem Umfang.
Anders als in Märchen oder fantastischen Erzählungen wird in dem dramatischen Gedicht das Unwahrscheinliche als wirklich geschehen ausgewiesen. Das, was hier vorgeführt wird, ist nicht der Fantasie des Menschen entsprungen, soll vielmehr verstanden werden als Verwirklichung einer göttlichen Vorsehung. Für Nathan steht fest, dass hinter oder vor jedem Weltgeschehen jemand steht, »der die strengsten Entschlüsse, die unbändigsten Entwürfe der Könige [...] gern an den schwächsten Fäden lenkt« (272). Es ist ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Axiom seines Glaubens, dass es einen Gott gibt, den er in Zeiten großer Not, großer Verzweiflung, aber auch großer Freude anrufen kann und dass dieser Gott letzten Endes alle Fäden des wechselvollen Spiels auf Erden in der Hand hält. Auf der Erde geht alles sehr natürlich zu. Was zunächst als Zufall aussah, erweist sich im Nachhinein als ein von Gott geordnetes Zusammenspiel von Grund und Folge.
Nathan baut darauf, dass die Welt so zum Besten der Menschen eingerichtet ist und dass sich alles zum Besten der Menschen entwickelt, wenn die Menschen Gott vertrauen, der die Fäden locker in der Hand hält.
Er nimmt damit in dem Diskurs die Position des Gläubigen ein, der nicht nur überzeugt ist, dass Gott existiert, der vielmehr darauf vertraut, dass dieser Gott die Welt zum Besten eingerichtet hat und dass er nicht für die Übel und das Böse in der Welt verantwortlich ist. Moses Mendelsohn, ein guter jüdischer Freund Lessings, hat das früh erkannt:
»Es kömmt mir vor, sagte ich, als wenn Lessing die Absicht gehabt hätte, in seinem Nathan eine Art von Anti-Candide 21 zu schreiben. Der Französische Dichter sammelte alle Kräfte seines Witzes, spornte die unerschöpfliche Laune seines satyrischen Geistes, mit einem Worte, strengte alle außerordentliche Talente, die ihm die Vorsehung gegeben, an, um auf diese Vorsehung selbst eine Satyre zu verfertigen. Der Deutsche that eben dieses, um sie zu rechtfertigen, und um sie den Augen der Sterblichen in ihrer reinsten Verklärung zu zeigen. Ich weiß mich zu erinnern, daß mein verewigter Freund, bald nach der Erscheinung des Candide, den flüchtigen Einfall hatte, einen Pendant zu demselben zu schreiben, oder vielmehr eine Fortsetzung desselben, in welcher er durch eine Folge von Begebenheiten zu zeigen Willens war, daß alle die Uebel, die Voltaire gehäuft, und auf Rechnung der verläumdeten Vorsehung zusammengedichtet hatte, am Ende dennoch zum Besten gelenkt, und zu den allerweisesten Absichten einstimmig gefunden werden sollten.« 22
Die Position Nathans – und in diesem Fall auch Lessings –, die kurz als Theodizee, als Rechtfertigung Gottes bezeichnet wird und genau der skeptischen Position Voltaires 23 entgegensteht, hat nicht zur Konsequenz, dass der Mensch zur Untätigkeit verdammt und dem Schicksal oder dem Lauf der Geschichte ausgeliefert ist. Vielmehr wird erwartet, dass der Mensch aus Einsicht und mit Hilfe seiner Vernunft der Vorsehung entgegenkommt. Nathan ist überzeugt: »Gott lohnt Gutes, hier getan, auch hier noch« (358 f.). Diese These wird durch die Anordnung der Spielhandlung bewiesen. Durch gute Taten haben sich die drei Vertreter der Hauptreligionen schon in der Vorfabel ausgezeichnet: Nathan hat den Christen, die seine Familie gemordet haben, vergeben und Recha als Pflegetochter angenommen; Sultan Saladin hat den gefangen genommenen Tempelherrn begnadigt; und dieser Tempelherr hat das angebliche Judenmädchen gerettet. Erst nachträglich merken die Betroffenen und auch die Zuschauer und Leser, wie diese Handlungen mit einander verzahnt sind und dass nur die Handlungen zusammen die glückliche Auflösung aller Konflikte ermöglichen.
Alle drei Handlungen sind ausgeübt »mit Sanftmut«, »mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun« (2045 f.) und frei »von Vorurteilen« (2042). Nathan hat, als seine Familie umgebracht wurde, durchaus »mit Gott [...] gerechtet, [...] und die Welt verwünscht« (3048). Doch, so berichtet er, »die Vernunft« kam wieder und »sprach mit sanfter Stimm’: ›Und doch ist Gott! Doch war
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