Nathaniels Seele
Nathaniel schlug die mitternachtsblaue Webdecke und das weiße Laken zurück, bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie sich auf das Bett legen sollte, und bettete sich, als sie es tat, vorsichtig hinter sie. Josephine seufzte, als sein Körper sich an den ihren schmiegte, Wärme und Geborgenheit vermittelnd. Er zog Decke und Laken hoch, umfing sie mit beiden Armen und legte seine Lippen auf ihren Nacken.
Josephine war glücklich. Selbst, wenn die Welt untergegangen wäre, hätte sie sich sicher gefühlt. Beschützt von seiner Umarmung.
„Beginnen wir ganz klassisch“, sagte Nathaniel und schmiegte seine Wange an ihr Haar. „Geboren wurde ich irgendwann um das Jahr 1845. Ein genaues Datum weiß ich nicht, denn wir besaßen damals weder Uhren noch Kalender. Ich weiß nur, dass ich im Frühjahr geboren wurde, und dass der Wind, der in das Zelt wehte, nach Krokussen und Wildrosen roch.“
„Du kannst dich daran erinnern, wie der Wind roch?“ Josephine verschränkte ihre Finger mit den seinen. „Nach deiner Geburt?“
„Ja“, erwiderte er. „Ich glaube jedenfalls, mich daran zu erinnern. Wenn ich Wildrosen oder Krokusse rieche, denke ich an die Biberpelze, in denen ich lag, und an den Geschmack der Milch meiner Mutter. Als ich geboren wurde, lebte mein Stamm bereits in den Großen Ebenen. Ich erinnere mich gern an damals. Es waren vollkommene Jahre. Ungetrübt von Sorgen und frei. Natürlich gab es immer Kämpfe, denn wo mehrere Stämme aufeinandertrafen, ließ Ärger nie lange auf sich warten. Eine Art inoffizieller Ehrenkodex schrieb vor, dass ein Stamm, der mit dem anderen Krieg führen wollte, drei Tage vorher einen Boten aussenden musste, um dem Gegner Gelegenheit zu geben, Frauen, Kinder und Kranke in Sicherheit zu bringen und sich auf die Schlacht vorzubereiten.
Viele Kriege wurden nach diesem Kodex geführt, aber natürlich besaßen nicht alle Stämme genügend Ehre, sich daran zu halten. Auch unter unseresgleichen gab es grausame Kämpfe, aber niemals waren sie katastrophal. Die tödlichsten Waffen, die wir besaßen, waren Kriegsäxte, Bögen und Lanzen, abgesehen davon brachte nur ein fairer Sieg Ehre ein. Als einer der größten Coups galt es zum Beispiel, sich an einen Schlafenden des feindlichen Stammes heranzuschleichen und ihn zu berühren. Oder das Pferd des Gegners zu stehlen.
Wie auch immer, ich genoss meine Kindheit in vollen Zügen, was auch an meinem älteren Bruder lag, denn sein Ehrgeiz spornte mich zu Leistungen an, die ich ohne ihn für unerreichbar gehalten hätte. Gemeinsam ritten wir, kaum dass ich auf einem Pferd sitzen konnte, über die Prärie. Wir stürzten uns in die Stromschnellen, schwammen um unser Leben und lagen, nachdem wir dem Tod knapp entronnen waren, nackt im Sonnenschein und sahen dem Gras zu, das vom Wind bewegt wurde wie ein Meer. Tokala, so war der Name meines Bruders, brachte mir sehr früh bei, mit Bogen, Lanze und Kriegsaxt umzugehen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter sich vor Lachen kaum halten konnte, wenn ich Winzling versuchte, meinem Bruder mit der schweren Lanze zu Leibe zu rücken.“
„Was bedeutet Tokala?“, fragte Josephine. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so zufrieden gewesen zu sein. Hier in diesem Zimmer, in Nathaniels Armen und seiner Stimme lauschend. Sie befand sich in einer Welt, in der ihr rationaler Verstand nicht mehr zählte, und dieses Wissen war erregend und herrlich.
„Es bedeutet
kleiner Fuchs
“, antwortete er.
„Wie war dein Name?“
Nathaniel lachte. „Damals hieß ich Tawitko. Das bedeutet soviel wie
verrückter Büffel
.“
„Warum das denn?“
„Meine Mutter träumte in der Nacht vor meiner Geburt von einem Büffel, der durch das Dorf stürmt und sämtliche Tipis umreißt. Sie ging davon aus, dass es ein Zeichen war. Also nannte sie mich Tawitko. Jedenfalls … eine der liebsten Beschäftigungen meines Bruders und mir war es, uns den unwirtlichsten Bedingungen auszusetzen. Im Sommer nahmen wir uns jeweils ein Kanu und paddelten flussaufwärts, so lange, bis jeder Muskel sich wie Stein anfühlte und wir vor Erschöpfung zu halluzinieren begannen. Wir schliefen, wenn der Mond aufging, und ließen die Kanus wieder zu Wasser, wenn er hoch am Himmel stand. Irgendwann glitten unsere Boote so leicht über den Fluss, als lenkten die Geister sie. Wir spürten keine Schmerzen mehr, keinen Hunger, keinen Durst.
Erklomm mein Bruder wiederum den Fuß des Gipfels unseres heiligen Berges, musste ich Leib und Leben
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