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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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riskieren, um bis ganz nach oben zu kommen. Harrte er sieben Tage in der Schneewüste aus, musste ich wenigstens zwei Tage länger dem Winter die Stirn bieten, selbst, wenn der Dämon des Frostes meine Finger abzunagen drohte. Ich erinnere mich an ein Lacrosse-Spiel, das gegen Ende des Frühlings ausgetragen wurde. Während dieses Spiels schlug jemand meinem Bruder einen Schläger gegen das Schienbein, und zwar so heftig, dass es brach. Er verzog keine Miene, obwohl der Knochen durch die Haut brach, als er stürzte. Das Mädchen, auf das wir beide ein Auge geworfen hatten, beobachtete ihn nämlich. Die Eifersucht, dass er ihr seine Tapferkeit beweisen konnte, während ich unversehrt geblieben war, machte mich ganz verrückt. Am Abend, als alle um das große Feuer herumsaßen, nahm ich einen glühenden Zweig und bohrte ihn mir in das Bein. Anschließend rieb ich Salz in die Wunde, nur ummeiner Angebeteten zu zeigen, dass ich nicht weniger Schmerz ertrug als mein Bruder. Vermutlich übertrieb ich es, denn ich wachte in der Nacht vom Schimpfen meiner Mutter auf, die mich, nachdem ich ohnmächtig geworden war, in unser Zelt getragen hat.“
    Nathaniel lachte, küsste ihren Nacken und schwieg eine Weile. Schließlich, als Josephine ganz trunken von der Stille war, fuhr er mit seiner Erzählung fort: „Zweimal im Jahr wechselte mein Stamm das Lager, zog durch die Großen Ebenen und suchte nach einer neuen Heimat. Wir folgten den Bisons, die damals in unvorstellbarer Zahl die Prärie bevölkerten und von uns gejagt wurden. Im Frühjahr, um die Fleischvorräte aufzufüllen, und im Spätherbst, wenn ihre Felle dick und weich waren.
    Alle Dinge konnten damals noch frei atmen. Grenzen existierten für uns nicht. Aber eines Tages zogen unsere Krieger aus, um einen Treck Siedler zurückzuschlagen. Sie kehrten siegreich zurück, aber mein Vater lag tot auf einer Bahre. An dem Abend, da wir seine Asche in das Totenkanu streuten und es dem Fluss übergaben, endete mein erstes Leben und mit ihm die Zeit, in der uns die Prärie grenzenlos erschien. Immer häufiger trafen wir auf Wagenspuren. Immer kürzer wurden die Zeiten, in denen Frieden herrschte. Krankheiten kamen zu uns, für die wir keine Namen hatten. Viele starben, auch meine Mutter. Deshalb töteten wir fortan jeden weißen Missionar, der in unser Dorf stolperte.“
    „Auch, wenn sie in Frieden kamen?“
    „In Frieden?“ Nathaniel schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sie kamen, um unseren Geist zu vergiften. Sie griffen uns nicht mit Waffen an, stattdessen schlichen sie sich heimlich in unsere Seelen und versuchten, uns vom Pfad unserer Ahnen abzubringen. Zuerst übergaben wir die gefangenen Missionare unseren Frauen, damit sie sie drei Tage lang foltern konnten. Aber als wir erkannten, dass diese Männer Krankheiten mit sich brachten, erschossen wir sie, sobald sie sich unserem Dorf näherten.“
    „Ihr habt sie gefoltert? Drei Tage lang?“
    „Manche ließen wir gehen“, beschwichtigte Nathaniel sie. „Nur nicht in vollständigem Zustand.“
    „Das ist …“
    „Barbarisch? Sicher, aber es waren andere Zeiten.“
    Josephine nickte schaudernd. „Wie ging es weiter?“
    „Der Rest steht in zahllosen Geschichtsbüchern. An einem Wintermorgen wurde unser Dorf niedergemacht und mein Stamm nahezu ausgerottet. Ich entkam mit drei Männern, zwei Frauen und einem Kind. Mein Bruder blieb im Kugelhagel zurück. Sein Tod weckte einen Hass, der mich bis heute nicht ganz verlassen hat. Ich wusste, dass die Soldaten nicht nur seinen Körper getötet hatten, sondern auch seinen Geist. In unserem Glauben muss ein Toter sich mit der Seele des Baumes vereinen, mit dessen Holz er verbrannt wird, um das Land hinter dem Sonnenuntergang zu erreichen. Mein Bruder verfaulte stattdessen auf dem Schlachtfeld.“
    „Ich bin sicher, dass er das Land trotzdem erreichte.“
    Nathaniel lächelte. Dann fuhr er fort. „Nachdem wir mehrere Tage durch die Prärie gezogen waren, fanden wir eine neue Heimat bei einem Nachbarstamm. Ich vervollkommnete alles, was mein Bruder mir beigebracht hatte, und selbst, als ich in Petala meine erste große Liebe fand und sie mir einen Sohn schenkte, wurde der Hass in mir nicht gemildert. Er war hellrot und grell wie das Feuer, das im Sommer die Prärie auffraß, und er konnte durch nichts gelöscht werden. Wo immer wir auf Weiße trafen, tötete ich sie. Mein Feldzug gegen sie wurde zu einer bitteren Medizin, deren Wirkung nie lange anhielt. Als Unmengen

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