Nathaniels Seele
hinunter, das von einem der gebratenen Hirsche für sie abgeschnitten worden war. Es schmeckte köstlich. Wild, salzig und zart.
„Er singt von dem, was geschieht, wenn wir sterben“, antwortete Nathaniel.
„Und was ist das?“
Er lächelte, als erfreute es ihn, dass sie ihm diese Frage stellte. „Das Volk der Tiere und der Pflanzen richtet über uns, wenn wir in das Land jenseits des Sonnenuntergangs gehen. Ehe wir in das immergrüne Tal gelassen werden, müssen wir uns ihrem Urteil beugen. Hast du jemals einem Tier Böses angetan, es ohne Grund getötet oder ihm aus Spaß Schmerzen bereitet, dann wirst du auf die Erde zurückgeschickt, um Respekt zu lernen. Hast du jemals einen Baum gefällt, ohne ihn um Verzeihung zu bitten und ihm zu danken für das, was er dir gibt, wirst du vom Gericht der Pflanzen verurteilt und zurückgeschickt, um Demut zu lernen.“
„Dann muss das Tal heute ziemlich leer sein.“ Josephine aß das letzte Fleischstück und sprach im Geiste ein Dankgebet für das Tier, das für sie gestorben war. Es fühlte sich richtig an. Dann hörte sie, wie die Stimme des Mannes von der Frau abgelöst wurde.
„Worüber singt sie?“
„Von dem betrügerischen Herrn der Sorge“, antwortete Nathaniel bereitwillig. „Er kam einst zu den Menschen und tarnte sich als mächtiger, weiser Gott. Er sagte ihnen, es sei eine Sünde, in vollkommenem Glück zu leben. Erleuchtung fände man nur durch Entbehrung und Verzicht. Der Herr der Sorge führte die Menschen an einen kargen Ort ohne Freude. Er trennte Männerund Frauen, lehrte sie eine unterschiedliche Sprache, damit sie einander nicht mehr verstanden, und versagte ihnen die Tänze und Feste. Eine Zeit lang gehorchten ihm die Menschen, denn der Herr der Sorge sprach von grausamen Qualen, die jeder erleiden würde, der sich nicht an die Gesetze hielte. Doch je länger sie unter der Last ewiger Angst und Entbehrung dahinvegetierten, umso größer wurde ihre Sehnsucht nach Freiheit. Eines Tages, als der Adler über ihnen erschien und ihnen von alten Zeiten erzählte, erhoben sich die Menschen gegen den Herrn der Sorge und besiegten ihn in einem langen, kräftezehrenden Kampf. Sie kehrten zurück in die grünen Hügel ihrer Heimat, um so zu leben wie ihre Vorfahren. Männer und Frauen lernten, wieder dieselbe Sprache zu sprechen, sie feierten und lachten gemeinsam, lebten ohne Angst vor dem Jenseits, weil sie wussten, dass der Tod nur ein Überwechseln in etwas Neues ist. Wie ein Schmetterling seine Puppe zurücklässt, um in einem anderen Zustand des Seins weiterzuleben.“
Josephine dachte über diese Worte nach, während sie Nathaniels Hand hielt. Der Rhythmus der Trommeln floss durch ihren Körper, dröhnend wie das Stakkato ihres Herzens. Passte sich ihr Herz der Musik an, oder war es umgekehrt? Automatisch zuckte sie im Takt der Schläge, was Nathaniel nicht verborgen blieb.
„Lass uns tanzen“, raunte er.
„Aber ich …“
„Nicht denken, handeln.“ Abrupt zog er sie hoch und lotste sie durch die Masse der Liegenden und Sitzenden, nicht zum Feuer, sondern zu einem großen Fell, auf dem mehrere Schälchen standen.
„Warte kurz.“ Er kniete nieder, nahm eine Handvoll weißer Farbe aus einer der Schalen und verteilte sie in den Händen.
Josephine erwartete, von ihm verziert zu werden, doch als er beide Hände unvermittelt auf ihr Gesicht drückte, zuckte sie zurück.
„Jetzt kannst du den Geistern gegenübertreten“, verkündete er feierlich. „Denn du siehst selbst aus wie einer.“
Josephine gluckste. Sie bückte sich, wählte die Schale mit der roten Farbe und tauchte ihrerseits die Hände ein. „Dann will ich mal sehen, was ich für dich tun kann.“
Sie legte die Fingerspitzen an seine Wangen an, weitaus zarter, als er es getan hatte, und ließ sie genüsslich tiefer gleiten. Über Kiefer, Hals und Schlüsselbein, bis der Stoff des Hemdes den Weg ihrer Finger beendete. Noch einmal nahm sie Farbe auf, um diesmal seine Stirn rot zu färben. Zu guter Letzt, als Nathaniel genüsslich die Augen schloss, strich sie mit der Spitze ihres Zeigefingers über seinen Nasenrücken und die Lippen.
Ihr Atem ging schwer. Er fing ihre Hand ein, küsste jede einzelne Fingerkuppe und ließ seine Zunge über der zarten Haut ihres Unterarms kreisen.
„Später,“ schnurrte er. „Später gebe ich dir alles, was du willst. Hier und jetzt kannst du alles sein, was du sein willst.“ Er ließ sie los, zwinkerte ihr zu und lief voraus, hinein in
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