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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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richtige Gefäß für eine Macht, die zu groß war, um von gewöhnlichen Seelen getragen zu werden. Ich erinnere mich genau an jenen Tag, da ich aufhörte, Mensch zu sein.“ Nathaniels Stimme wurde leiser, schien seine Erinnerungen wie im Halbschlaf wiederzugeben.
    „Die gelb gefärbten Blätter der Baumwollpappeln funkelten im Sonnenlicht, der Herbsthimmel war wolkenlos und strahlend blau. Ich saß am Bach und wusste, dass der General mich beobachtete. Jedes Zeichen meiner Resignation erfüllte dieses Ungeheuer mit Triumph. Aber es war mir egal. Die Freiheit, für die ich jahrelang gekämpft hatte, war verloren. Übrig geblieben war nur der Wunsch nach dem Jenseits, denn dort, in der Welt hinter dem Schleier des Lebens, würde meine Trauer ein Ende finden. So dachte ich wenigstens. Ich beschloss, als letzte Handlung den General zu töten. Danach würde man mich hängen, und ich würde die Welt, die nicht mehr meine war, endlich verlassen können.
    Absá spürte meine Gefühle, also kam sie an diesem Nachmittag zu mir. Ich entdeckte sie am gegenüberliegenden Ufer des Baches, gerade als ich meinen Plan in die Tat umsetzen wollte.
    ‚Komm mit mir‘, sagte sie. ‚Komm mit. Du kennst dein Schicksal nicht, aber ich kenne es.‘
    Der Druck ihrer Hand war sehr fest. Zu fest für eine alte, schwache Frau. Willenlos ließ ich mich von ihr führen, quer durch den Pappelwald und hin zu jener Lichtung, die den Zelten der Berg-Absarokee vorbehalten war. Überall starrten mich leere Gesichte an. Fragende Gesichter. Gesichter, auf denen sich nur noch ein Hauch des einstigen Stolzes spiegelte.
    Als die Schamanin mich in das große Tipi am Rande des Dorfes führte, erwartete man mich bereits. In jeder anderen Situation hätte ich mich gefragt, was die seltsamen Mienen der Anwesenden bedeuteten, oder warum sie von meiner Ankunft wussten. Aber damals empfand ich nichts. Keine Verwirrung, keine Angst, nichts.
    Ich sah ihre Gesichter im Dunkeln schimmern. Alte und junge Gesichter, hoffnungsvolle und resignierte, versunkene und erwartungsvolle. Ich sah zwei uralte Männer, deren Augen in Tränen schwammen, und einen jungen Mann, dessen strahlende Schönheit nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass sein Alter das jedes anderen in diesem Zelt überstieg. Ich begriff nicht, warum die Augen des Jungen trüber blickten als die jedes Greises. Mir war nicht klar, warum er jene Art von bleierner Erschöpfung ausstrahlte, wie sie nur Menschen erfüllte, die alles gesehen und alles erlebt hatten.
    ‚Gib einem Menschen Macht, und du erkennst seinen wahren Charakter‘, sagte Absá zu mir, als ich mich auf den leeren Platz an ihrer Seite niederließ. ‚Lange haben wir gesucht. Viel zu lange, um jemanden zu finden, der der Macht würdig ist. Rauch eine Pfeife mit uns, mein Sohn. Die Zeiten sind schlecht, und in solchen Zeiten sollten wir begreifen, dass wir alle zusammengehören.‘
    Ich nahm das Kalumet entgegen, das sie mir reichte. Es war das, was du vielleicht schon gesehen hast, an der Wand in meinem Haus. Es besteht nicht aus Holz, sondern aus irgendeinem Material, das nicht von dieser Welt stammt.“
    „Wie meinst du das?“, flüsterte Josephine.
    „Ich habe es einmal von einem Freund untersuchen lassen. Das Material war ihm völlig unbekannt. Es gibt nichts Vergleichbares.
    „Weißt du nichts darüber, woher es stammen könnte?“
    „Nein.“ Nathaniel streichelte versonnen ihren nackten Arm. „Unbekannte Schriftzeichen sind in die Pfeife geschnitzt, die keiner menschlichen Sprache zugeordnet werden können. Eine Untersuchung ergab, dass sie uralt ist. Viele Tausend Jahre. Schon, als ich damals den ersten Zug aus diesem seltsamen Ding nahm, begann sich die Welt um mich herum zu drehen. Ein Schleier legte sich auf meine Augen, der beim zweiten Zug noch dichter wurde. Zuerst dachte ich, man hätte etwas von dem heiligen Kaktus in den Tabak getan. Ich wollte die Pfeife weiterreichen, doch der Greis zu meiner Rechten forderte mich auf, einen dritten Zug zu nehmen.
    Ich wollte mich weigern, weil ich spürte, wie mein Verstand mir entglitt. Ich wollte diesen Tag mit dem Tod des Generals beenden, um endlich Petala und Cuncana wiederzusehen, und was immer sich im Tabak befand, es wirkte viel zu gut und viel zu schnell.
    ‚Tu es‘, sagte schließlich der junge, schöne Mann. ‚Lass alles hinter dir. So wie ich es getan habe.‘
    Sein Gesicht schwebte vor mir, als sie es ein Traumgebilde. Ich konnte seinem Willen nicht widerstehen,

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