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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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die Menge der Tanzenden. Josephine folgte ihm. Als er seine Arme ausstreckte, tat sie es ihm gleich. Als er sich wie ein Vogel in der Thermik drehte, ahmte sie ihn nach, schloss die Augen und stampfte im Rhythmus der Trommelschläge auf den von vielen Tänzern aufgewühlten Boden.
    „Sei ein Vogel“, hörte sie Nathaniel rufen. „Sei ein Hirsch oder ein Wolf. Sei, was immer du willst.“
    Josephine blieb kaum eine andere Wahl. Inzwischen hatte die Zahl der Tänzer zugenommen, sodass sie einen Strudel bildeten und jene Wenigen, die noch zögerten, mit sich rissen. Körper wirbelten um sie herum, Haare streiften über ihre Haut, Federn berührten ihre Wangen. Sie roch Feuer, Leder und Holz, verschwitzte Haut, Leidenschaft und das Aroma der Sommernacht. Ehe ihr Verstand Bedenken anmelden konnte, hatte der Sog sie bereits erfasst. Ohne noch einen Gedanken an Blamage oder misslungene Bewegungen zu verschwenden, ließ sie sich in den Strudel fallen, warf den Kopf zurück, wiegte sich in dem Rhythmus, den die Trommeln vorgaben, und wirbelte mit ihren nackten Füßen Staub auf. Dieser gemeinsame Tanz war etwas vollkommen Neues, Berauschendes. Er gab ihr das Gefühl, wie ein Vogel abzuheben. Sie stellte sich vor, ihre Flügel auszubreiten und über einen Abgrund zu gleiten. Ihre Bewegungen wurden schneller, immer ausgelassener wirbelte sie herum, mitgerissen von der Leidenschaft ihrer Mitstreiter, der Hitze und dem ekstatischen Spiel der Trommler. Bald fiel sie in das allgegenwärtige Gejohle und Geschrei mit ein und ließ alles hinaus, was hinauswollte. Jede Zelle ihres Körpers vibrierte im Taumel der Lebendigkeit. Erschöpfung kam, verflüchtete sich und verging.
    Als Nathaniel sie irgendwann packte und aus der tanzenden Meute zog, lachte sie, dass ihre Muskeln sich verkrampften. Glucksend und keuchend ließ sie sich von ihm zum Seeufer ziehen, fiel zu Boden und rollte sich herum wie ein Kind. Über ihr glommen die Sterne, Wind kühlte ihre verschwitzte Haut. Sie empfand eine solche Verbundenheit mit allem, dass es ihr war, als umarme sie die Schöpfung selbst.
    „Willst du bei mir bleiben?“ Nathaniel legte sich neben sie in das Gras. Sein schönes, rot bemaltes Gesicht vor dem Hintergrund des Sternenhimmels besaß etwas Überirdisches. Etwas Magisches.
    „Das will ich“, gurrte sie.
    „Auch wenn es schlimm enden könnte?“
    „Ich glaube an das Schicksal.“ Fern hörte sie das Gelächter der Menschen und das Johlen der Tänzer. „Ich glaube, dass alles, was uns passiert, Vorhersehung ist. Das Furchtbarste für mich wäre, allein zu sein und irgendwann in dem Wissen zu sterben, zu viel versäumt zu haben.“
    Nathaniel küsste sie. Weiche Haarsträhnen strichen über ihre Wangen. „Wenn ich dich verliere, wird mein Leben zu Endesein.“
    „Keine Angst“, flüsterte Josephine an seinen Lippen. „Alles wird gut.“
    „Hattest du eine Vision? Oder einen Traum?“
    „Nein. Ich weiß es einfach. An dem Abend, an dem du auf meine Farm gekommen bist, habe ich von einer Frau geträumt.Und von einem Kind. Sie wurden beide getötet. Von einem Bären. Es war deine Familie, habe ich recht? Deine Frau und dein Sohn?“
    Nathaniel sah sie lange an. Ihre Seele hätte sie hergegeben, um zu erfahren, was er in diesen Momenten dachte. Was er fühlte.
    „In unserem Glauben ist das ein Zeichen, dass zwei Menschen zusammengehören“, sagte er irgendwann. „So wie Morgen und Abend. Der eine träumt Erinnerungen des anderen, weil es auch seine eigenen sind.“
    Er setzte sich auf, zog etwas aus seinem Gürtel und hielt es ins Mondlicht. Es war eine kaum fingerlange Klinge, offenbar aus Stein. Nathaniel nahm eine Strähne seines Haares, schnitt sie ab und schob das provisorische Messer in seine Hülle zurück.
    „Setz dich vor mich“, sagte er leise.
    Josephine gehorchte. Gänsehaut überzog ihren Körper, als er sanft ihren Zopf löste, das Haar auf ihrem Rücken ausbreitete und mit den Fingern hindurchfuhr. Sie spürte, wie er mehrere dünne Strähnen abteilte und begann, sein abgeschnittenes Haar mit ihrem zu verflechten.
    Die Zeit hielt in ihrem Lauf inne. Es gab nur noch Nathaniels Wärme in ihrem Rücken, seine Berührungen und das Geräusch seines Atems. Josephine sah zu, wie der abnehmende Mond sich über die Wipfel der Tannen schob, wie er den See versilberte und von kleinen Schatten durchkreuzt wurde. Fledermäuse, Motten, Nachtvögel. Teile eines wunderbaren Ganzen, dem sie sich zum ersten Mal wirklich zugehörig

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