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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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gepackt hat, einfach mal etwas zu tun, weil du es tun willst.“
    „Hm“, machte Josephine.
    „Ich bin mit einer ganz anderen Moral aufgewachsen.“ Wieder rekelte er sich unter den Kaskaden tropfenden Wassers und ließ es über sein Gesicht rinnen. „Eltern liebten sich im Zelt, während die Kinder danebenlagen. Wir badeten nackt im Fluss. Männer, Frauen, Kinder. Paare zeigten offen, dass sie die Finger nicht voneinander lassen konnten. Es war nichts Anrüchiges daran, nur ein natürliches Verhältnis zu seinem Körper.“
    Josephine kicherte. Sie ließ ihre Hand im Wasser hin und her gleiten, um das Spiel des Mondlichts auf den Wellen zu beobachten. Obwohl ihre Furcht allgegenwärtig war, sog sie das Aroma dieser Momente mit fatalistischem Genuss in sich auf. Sie genoss das Gefühl des Wassers auf ihrer Haut und den Duft der Sommernacht. Sie genoss sogar die Verwirrung, die tiefer saß als jedes andere Gefühl und ihr den Eindruck vermittelte, als sei alles möglich. Hier und jetzt in dieser Nacht. Geister im Dunkeln, eine Nymphe in der Tiefe. Totemtiere, die über sie wachten, Irrlichter und fleischgewordene Legenden, die die Welt der Geschichten verließen, um durch den mondhellen Wald zu schleichen. Oder um neben ihr im Wasser zu liegen.
    „Was tust du da?“ Josephine sah, wie Nathaniel seinen Arm über dem Wasser ausstreckte. „Was wird das?“
    Er antwortete nichts. Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Etwas glitt aus dem Dunkel des Waldes heraus, schwebte über den See und zauberte Ringe, als es mit seinen Flügeln die Oberfläche streifte. Lautlos landete ein Käuzchen auf seinem Handrücken. Es schüttelte sich, zwinkerte und klappte seine Flügel ein. Bernsteingelbe Augen erwiderten Josephines ungläubigen Blick.
    „Ich habe gelogen“, sagte Nathaniel, während er seinen Arm mit dem kleinen Tier hin und her bewegte. „Ich bin mit meinerGabe nicht auf die Welt gekommen. Sie wurde mir erst später gegeben, als besonderes Geschenk.“
    Josephine blinzelte. „Wie machst du das? Er ist zahm, oder? Er kennt dich? Du hast ihn als Küken gefunden und großgezogen.“
    „Nein.“
    „Wilde Vögel setzen sich nicht einfach auf menschliche Hände.“
    Sie wurde wütend, weil er sie erneut in tiefste Fassungslosigkeit stürzte. Weil er mit jedem Moment, den sie gemeinsam verbrachten, rätselhafter wurde.
    „Stell dir vor“, raunte Nathaniel, „dass alles Lebendige einen bestimmten Rhythmus besitzt. Eine bestimmte Frequenz oder Schwingung, wie man heute sagen würde. Wenn man es schafft, seine eigene Frequenz zu verändern und anzupassen, kann man sich allen Lebewesen mitteilen. Den größten und den kleinsten. Es ist nicht so, dass man mit ihnen redet. Aber sie spüren Empfindungen. Gefühle. Wenn man nichts als Liebe fühlt, warum sollten sie Angst haben?“
    „Erzähl mir keinen Kitsch“, zischte Josephine. „Du kennst diesen Vogel. Sag schon.“
    „Liebe ist Kitsch? Arme Menschheit.“
    „Darum geht es nicht. Es geht um …“
    „Ja?“
    „Es geht darum, dass ich es nicht verstehe.“
    Langsam, mit angehaltenem Atem, streckte sie ihre Hand aus. Das Käuzchen rührte sich nicht. Sein glatter, seidiger Leib war so starr, dass es ebenso gut aus Holz hätte sein können.
    „Er mag es nicht, berührt zu werden“, flüsterte Nathaniel. „Wie du schon sagtest, er ist ein Wildvogel. Halte deine Hand vor seinen Schnabel.“
    „Wenigstens ist es kein Adler“, knurrte Josephine. „So wie auf diesen unsäglichen Postern.“
    „Wenn mir ein Adler unter die Augen kommt, werde ich ihm sagen, er soll sich auf meinen Arm setzen. Nur um dich wütend zu sehen.“
    „Wage es nicht.“
    Das Käuzchen schnarrte und zwickte sie behutsam in den Finger. Als es begann, daran zu lecken und eine winzige, nasse Zunge über ihre Haut tastete, entfloh ihr ein Seufzer der Entzückung.
    „Du bist verrückt“, stieß sie hervor. „Du bist der verrückteste Kauz, der mir je untergekommen ist. Und ich meine nicht den Vogel.“
    Nachdem sich das Tier ausgiebig mit ihrem Finger beschäftigt hatte, breitete es seine Flügel aus und flog davon. Lautlos glitt es über das Wasser, und als das Dunkel des Waldes seinen Schatten verschluckte, war es so, als sei das Tier nie bei ihnen gewesen. Josephine blickte ihm verstört hinterher.
    „Nicht wundern.“ Nathaniel zuckte die Schultern. „Nur genießen.“
    Er rückte etwas näher. Wie zufällig streifte sein Bein unter dem Wasser das ihre. Obwohl alles in

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