Nathaniels Seele
dramatisch?“
„Kurz und knapp.“
„Die meisten Frauen hätten die dramatische Version gewählt. Aber gut. Manchmal, musst du wissen, bin ich nicht ganz ich selbst. Ich habe eine ziemlich unbeherrschte Seite, mit der ich ab und zu einen kleinen Kampf austragen muss, um sie an ihren Platz zu verweisen. Dazu diente das Ritual. Es brachte meine Kräfte wieder ins Gleichgewicht.“
„Hat diese Seite nicht jeder? Mehr oder weniger?“
„Glaube mir, diese Seite hat nicht jeder. Wie viel weißt du über Totems?“
„Schutzgeister“, erwiderte sie und bemerkte, dass ihre Stimme verdächtig zitterte. „Die Geister von Tieren?“
„Schutzgeister, ja. In meinem Volk sucht jeder nach seinem Totem, indem er auf Visionssuche geht. Meines war damals eineKrähe. Aber ich bin auch selbst eine Art Totem. Meine Aufgabe ist es, den Stamm zu schützen.“
Nathaniel beobachtete sie lauernd. Offenbar forschte er nach ihren Reaktionen, doch Josephine wusste nicht, wie sie hätte reagieren sollen. Also entschied sie sich für ratloses Schweigen.
„Ich bin sozusagen ihr Schutzgeist. Ihr Totem. Und das kann ich nur sein, wenn die dunkle und die helle Seite in mir im Gleichgewicht sind.“
„Gut.“ Josephine schluckte. Ein Tropfen fiel vom Moosüberhang herab und traf Nathaniels Brust. Träge floss er über seine Narben. „Das ist so eine Art indianische Religion, oder? Eine Tradition?“
„Es ist viel mehr als das. Aber nimm es ruhig als Tradition. Und weil meine besondere Gabe gebraucht wird, muss ich für eine Weile verschwinden. Noch heute Nacht.“
„Du musst verschwinden?“
„Jemand braucht meine Hilfe. In ein paar Stunden fliege ich nach San Francisco.“
„Für wie lange?“
„Ich muss am gleichen Abend zurück. Deswegen war ich heute Morgen so wütend. Ich hatte gerade so etwas wie Ruhe gefunden, aber statt sie mir zu gönnen, werde ich herumgescheucht. Aber was soll’s. Ich werde auf Kosten des Stammesrates in das beste Restaurant der Stadt einkehren, sofern ich die Zeit dafür finde. Und bevor ich es vergesse, würdest du in meiner Abwesenheit den Hund füttern?“
„Chinook vom Stamm der Chinooks. Sicher doch.“
„Er schläft die meiste Zeit oben in der Wohnung oder im Stall. Stell ihm das Futter einfach vor das Sofa. Er frisst alles. Und damit meine ich wirklich alles.“
„Gern.“ Josephine rückte ein Stück von ihm ab, denn sein forschender Blick ging ihr durch Mark und Bein. Zweifellos hatte er schon viele Frauen nackt gesehen. Obwohl etwas an diesen Augenblicken von großer Schönheit war – sei es der Mondschein, das stille Wasser, der Nachtwind – gelang es ihr nicht, loszulassen.
„Sie schicken dich nach San Francisco, und noch am selben Abend musst du zurück?“
Er nickte. „Jetzt weißt du, was ich mit Stress meinte.“
„Aber du arbeitest bei mir. Das heißt, ich könnte dir so viele freie Tage gönnen, wie du willst.“
„Das ist sehr nobel von dir.“ Nathaniel schüttelte den Kopf und lachte. Es war ein freimütiges Lachen, das nichts mit seinem üblichen, undurchschaubaren Grinsen zu tun hatte. „Aber das wird den Stammesrat nicht interessieren. Sie wollen mich in ihrer Nähe. Deine Farm ist gewissermaßen gerade noch im grünen Bereich, deshalb macht es ihnen nichts aus, dass ich hier bin. Obwohl sie es nicht nehmen lassen, mich bei der Jagd zu stören.“
„Ihr seid seltsam.“
„Nur für deine Begriffe.“ Nathaniel lehnte seinen Kopf gegen den Felsen und schloss die Augen, als wolle er ihr die Gelegenheit geben, ihre Musterung ungezwungener fortzusetzen. „Andererseits verstehe auch ich das Treiben des Rates nicht immer. Ein Abend später würde weder sie noch mich umbringen. Stattdessen geben sie mir das Gefühl, ihr Gefangener zu sein. Ab und zu gönnt man mir einen Ausgang, aber der ist dann so kurz gehalten, dass ich eingesperrt bin, noch ehe ich zum Atemholen komme. Sie haben Angst, ohne mich schutzlos zu sein. Sie fürchten, dass ein Tag ausreichen könnte, um die Gunst des Schicksals zu verspielen. Und ich wiederum kann meinen Stamm nicht im Stich lassen. Aus mehreren Gründen.“
„Die gute alte Angst. Was wären wir nur ohne sie?“
„Ziemlich leichtsinnig und ziemlich glücklich. Aber wo wir gerade bei Angst sind … warum genierst du dich so? Findest du das nicht merkwürdig?“
„Mit einem Wildfremden nackt im Wasser zu liegen? Oh ja.“
„Warum tust du es dann?“
„Weil…“
„… du es aufregend findest. Weil dich die Lust
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