Nauraka - Volk der Tiefe
Jahren löste sich Erenwins Zunge ganz von selbst, und er erzählte von seinem langen Weg in ungewöhnlich vielen Worten. Sie war eine Verwandte, und er konnte verstehen, was sie bewegte, fühlte eine vertraute Schwingung. Ihm selbst tat es gut, mit jemandem darüber zu sprechen, der wiederum ihn verstehen konnte. Bis auf die Schwarze Perle offenbarte er alles.
Es war ihm angenehm, sie in seiner Nähe zu wissen, doch er hatte den Eindruck, dass sie sich öfter bei ihm aufhielt als notwendig gewesen wäre. »Gehört es zu deinen Pflichten, so viel Zeit bei einem Genesenden zu verbringen?«
»Nein«, gab sie zu. »Aber du bist ein Nauraka, und ich fühle mich dir verbunden. Ich höre gern deine Geschichten.«
Er dachte nicht darüber nach, warum sie seine Nähe suchte, und warum er es ihn nach ihrer Nähe verlangte. Es erschien ihm ganz natürlich. Immerhin waren sie gewissermaßen verwandt und die Einzigen ihrer Art in dieser Fremde.
Nacheinander kamen auch jene Daranil zu Besuch, die ihn von dem Felsplateau gerettet hatten, allen voran der gerade erst zwanzigjährige Yahi. Erenwin fiel auf, dass kein einziger Daranil dasselbe Gefiedermuster wie ein anderer aufwies. Er entdeckte verschiedene Abstufungen von Hell und Dunkel, mit Schattierungen dazwischen. Mit etwas Übung konnte man sie, selbst wenn viele von ihnen gemeinsam am Himmel flogen, gut voneinander unterscheiden, und es war ein schöner Anblick, wie Blumen auf einer Wiese. Ihre vogelähnlichen Gesichter mit den großen hellen, geschlitzten Augen wirkten anfangs befremdlich auf ihn – was ein wenig seltsam anmutete, wenn man bedachte, wie er selbst aussah. Statt Haare fielen feine, dünne lange Federn von ihren Köpfen herab, die sie entweder offen oder geflochten trugen; bei starker Erregung konnten sie die Kiele sogar leicht aufstellen. Ansonsten unterschieden sie sich körperlich in nichts von ihm oder den Menschen. Sie trugen leichte, luftige, prächtig bestickte Kleidung, keine Beinkleider und fein geschnürte Sandalen.
Die Daranil wiederum begegneten ihm ebenso unbefangen wie die Zwerge. Er sah nicht einmal Mitleid über seinen Zustand in ihren Augen, stattdessen bestaunten sie ihn vielmehr wie ein Wunder. Daranilfrauen brachten ihm kleine Süßigkeiten vorbei und stellten ihre Kinder vor, und alle wollten seine Geschichte hören.
»Warum so viel Aufmerksamkeit?«, fragte er Alrydis erstaunt.
»Du bist der Nauraka«, antwortete sie, als würde das alles erklären.
In erster Linie waren sie wohl einfach neugierig.
»Die Alten Völker hegen kaum Vorbehalte wegen des Aussehens eines anderen«, sagte Alrydis zu ihm. »Es gibt genügend Wesen, die von bizarrer Gestalt sind, daran stören wir uns nicht.«
»Doch ich trage meine schwarze Seele offen zur Schau und bin nicht mit dieser Gestalt geboren worden«, erwiderte er. »Das müsst ihr doch spüren, es ist abstoßend.«
»Du warst zu lange bei den Menschen, dass du so viel Wert auf Äußerlichkeiten legst«, versetzte sie leichthin.
»Nein, zu lange bei den Nauraka, die ihre Gestalt für die perfekte halten«, murmelte er und schämte sich.
Helur streckte den Kopf herein. »Ich muss dir was erzählen«, sagte er und kam näher. »Vor vielen Jahren flog ich zur Seerose Nuramar, und dort sah ich kurz eine Frau, deren Haut wie Perlmutt schimmerte, mit türkisfarbenen Augen wie das Meer über einer Sandbank, und langen schwarzen Haaren. Zierlich, aber hochgewachsen, kaum kleiner als ich. Sie war außergewöhnlich anmutig und schön, niemand sah so aus wie sie, deshalb fiel sie mir auf.«
»Lurdèa!«, schrie Erenwin auf. »Das war sie, kein Zweifel! Sie lebt also, sie lebt! Sie ist in Nerovia, ich wusste es!«
Helur hob beschwichtigend die Hände. »Nun, es ist sehr lange her, wie gesagt, bestimmt schon an die zwanzig Jahre. Damals zumindest lebte sie. Ich war kaum auf der Seerose gelandet, als Nuramar von Piraten überfallen wurde, und ich war so beschäftigt mit dem Kampf gegen den Dsuntari, dass ich die Frau aus den Augen verlor. Ich suchte später nach ihr, aber wahrscheinlich hatten die Piraten sie verschleppt – oder sie konnte sich ins Meer retten. Erst Jahre später begriff ich, dass sie die Nauraka gewesen sein musste, die du suchst.«
Erenwin fing an zu weinen. »Warum sind wir uns nicht früher begegnet? Hast du jemals wieder eine Spur von ihr gefunden?«
»Nein, tut mir leid, ich flog danach kaum mehr über die Lande, sondern war die meiste Zeit mit den Wolkenfängern
Weitere Kostenlose Bücher